Kultur

Das Leben des Anderen

von ohne Autor · 20. Oktober 2011
placeholder

Auch im Scheitern bleibt Gratzik dem Extremen treu: 20 Jahre lang spionierte der Romancier und Dramatiker seine Umgebung für die Staatssicherheit aus. 1980 wurde er mit dem Heinrich-Mann-Preis, einer der höchsten literarischen Auszeichnungen der DDR, geehrt. Ein Jahr darauf warf "IM Peter" hin. Fortan gehörte er zu den Bespitzelten, sah sich gar als Dissident. Aussteiger wäre die passendere Bezeichnung.

Seit bald drei Jahrzehnten fristet der 76-Jährige sein Dasein auf einem einsamen Hof in der Uckermark - des Winters vor allem damit beschäftigt, den Ofen zu heizen und Rumtopf anzusetzen. Und wohl auch, um über die Wirren seines Lebens zu grübeln, möchte man meinen. Doch das bleibt Spekulation - wie Gratziks innere Welt überhaupt fragmentarisch und widersprüchlich bleibt. Fast wirkt er wie die Vollendung von Friedrich Nietzsches Lebensentwurf in "Jenseits von Gut und Böse": "Jeder auserlesene Mensch trachtet instinktiv nach seiner Burg und Heimlichkeit, wo er von der Menge, den Vielen, den Allermeisten erlöst ist."

"So schwer, wie man zu ihm hinkommt, kommt man auch an ihn heran", sagt Hendel. Ihr Versuch, den Schleier aus Verbitterung und Verdrängung zu lüften, beeindruckt allein durch die Ausdauer. Die Berlinerin ist einer der wenigen, die Gratzik überhaupt an sich heranlässt. Andererseits ist dem Dokumentarfilm kaum anzumerken, dass beide seit den 80er-Jahren befreundet sind: So brüchig ist das, was sich als eine entspannte Gesprächsatmosphäre bezeichnen lässt. Immer wieder kippt die Stimmung.

Denunziant kontra Kapital

Wie etwa in der Eingangsszene im Ruderboot. Auf die Frage, wie Gratzik damit klargekommen ist, Freunde und Kollegen auszuspionieren, folgt ein Wutausbruch: "Wir hätten den Kapitalisten viel mehr ans Bein pissen müssen. Hätte ich bloß nicht bei der Stasi in den Sack gehauen!" Bis auf eine Ausnahme habe er niemals über seine Nächsten berichtet, getreu dem Motto seiner Mutter, mit der er 1945 aus Ostpreußen geflohen war: "Der größte Feind im ganzen Land ist und bleibt der Denunziant."

Gleichwohl war es jene relative Vertrautheit, die "Vaterlandsverräter" überhaupt erst möglich gemacht hat. Und damit auch jene entblößenden Momente, in denen neben der Stimme auch der Panzer dieses gleichermaßen sensiblen wie groben Bohémien brüchig wird. "Ich bin ein schlechter Mensch", sagt Gratzik wenige Minuten vor einer Augenoperation. Fast könnte man den hilflosen alten Mann in der Halbtotalen bedauern. Die OP-Maske lässt ihn wie einen Außerirdischen aussehen - vermutlich könnte er mit dieser Titulierung gut leben. Das Gefühl, Zeuge einer auf die Spitze getriebenen Clownerie und Koketterie geworden zu sein, möglicherweise des Innersten dieses dandyhaften Waldschrats gewahr geworden zu sein, will nicht weichen. Aus jeder Selbsterniedrigung scheint Hochmut zu sprechen.

Psychologische Trümmer

Ohne eine gewisse Verstellungskunst wird Gratzik als Stasi-Zuträger nicht ausgekommen sein. Die Folgen seines Verrats für die Betroffenen bleiben weitgehend im Dunkeln. Dennoch ist das psychologische Trümmerfeld, dass der Vertrauensbruch hinterlässt, unübersehbar. Und zwar nicht nur bei der Hauptfigur.

In erschütternder Weise wird das deutlich, als Hendel eine Ex-Geliebte Gratziks, die Opernsängerin Renate Biskup, mit dessen IM-Berichten konfrontiert. Ungewollt unterstreicht ihr meterdickes Make-up den eingefrorenen Blick: Für die resolute Bühnenveteranin ist gerade eine Welt zusammengebrochen.

Andere Weggefährten aus der Literatur- und Theaterszene berichten eher abgeklärt von Gratziks Doppelleben und den Strukturen, die es prägten. Kategorien wie Gut und Böse, so wird deutlich, eignen sich kaum, um das diffuse Verhältnis zwischen Kunst und Macht zu verstehen - nicht nur in der DDR.

Zwischen allen Stühlen

Wohl eher Karrierismus, vielleicht auch in Gratziks Fall: Kaum ist der einstige Braunkohle-Malocher ein IM, beginnt er ein Studium am Institut für Lehrerbildung in Weimar. Obwohl er später vom ehrwürdigen Literaturinstitut Johannes R. Becher fliegt, startet Gratzik als Autor voll durch - und geht dennoch Mitte der 70er-Jahre zurück in die Produktion.

Eine Existenz zwischen Mitläufer und Außenseiter, die sich klassischen moralischen Kategorien versagt: "Vaterlandsverräter" legt individuelle Spielräume in der Diktatur offen, mögen die Lebensentwürfe auch armselig oder gescheitert sein. Wie Hendel Gratziks Scheitern, auch als Vater, schonungslos porträtiert, ohne ihm seine Würde zu nehmen, verdient den höchsten Respekt.

Selten wurde der Blick auf das (intellektuelle) Leben in der DDR so wohltuend von jenem eindimensionalem Schwulst befreit, wie ihn vor allem das omnipräsente Drama "Das Leben der Anderen" zelebriert. Das, was sich dabei entblößt, muss allerdings ausgehalten werden.

Info: "Vaterlandsverräter" (Deutschland 2011), Buch und Regie: Annekatrin Hendel, mit Paul Gratzik, Renate Biskup, Gabriele Dietze, Sascha Anderson u.a., 96 Minuten. www.vaterlandsverraeter.com Kinostart: 20. Oktober

0 Kommentare
Noch keine Kommentare