Am Ende ist jede Eitelkeit sinnlos. Was vom Leben bleibt, ist ein Häuflein Asche. Dass aber auch der letzte Gang eines Menschen das Spiegelbild eines auf Effizienz getrimmten Gemeinwesens ist, zeigt der Dokumentarfilm „Gegenwart“.
Die Welt hinter den Kulissen der Krematorien dürfte zu den wenigen verbliebenen Orten zählen, die für die meisten allenfalls Fantasiebilder im Kopf erzeugen. Jedenfalls dann, wenn man, nüchtern betrachtet, die überlieferten Aufnahmen von den Verbrennungsöfen in den Vernichtungslagern der Nazis ausblendet und sich ganz auf das Hier und Jetzt konzentriert: Was eines Tages mit einem selbst passieren wird oder womöglich einem lieben Menschen vor nicht allzu langer Zeit widerfahren ist, wird gemeinhin verdrängt. Leicht gedeihen Horror- oder auch Idealvorstellungen.
Tor zwischen den Welten
Hier und Jetzt: Ein Krematorium ist nicht nur ein „Tor zwischen den Welten“, wie es im schwülstigen Marketingsprech heißt, sondern auch ein Ort mitten im Leben. Viele von ihnen arbeiten rund um die Uhr. In Sachen Technisierung und Arbeitsteilung unterscheidet sie wenig von einer gewöhnlichen Fabrik. Einen dieser Orte hat der Dokumentarfilmer Thomas Heise (Jahrgang 1955) mit seinem Team besucht. Kein Wunder also, dass das Ergebnis „Gegenwart“ heißt.
Zwischen Weihnachten und Neujahr quartierte sich Heise im Rhein-Taunus-Krematorium (Eigenwerbung: "Die neue Generation der Feuerbestattungsanlagen. Eingebettet im idyllischen Tal der Loreley.“) bei Koblenz ein. In drei Tagen, heißt es dort, werden die Verstorbenen „abgefertigt“. Dieser Ort hat alles, was einen von Effizienz und profanen Dingen des Alltags geprägten mittelständischen Betrieb ausmacht: Die Ware kommt und geht unaufhörlich. Jeder Arbeitsschritt vom Umladen der Särge bis zum Abfüllen der Urnen wird mit stoischer Routine, also mit blindem – besser gesagt: stummem – Verständnis untereinander erledigt.
Bestattung en am Fließband
Nicht minder stoisch und präzise ruht Heises Kamera überwiegend auf dem Stativ. In einer endlos langen Einstellung beobachtet sie, wie die Reinigungskräfte den Boden wischen. In dieser Beiläufigkeit könnte es auch eine Szene aus irgendeinem Behördenflur sein. Nach gut 20 Minuten dann der erste Sarg: Und irgendwann deutet ein Schwenk das ganze Ausmaß dessen an, was in dieser Halle tagtäglich weggearbeitet wird. Manchmal müssen die Särge gestapelt werden. Inmitten der Flut aus Holzkisten klappen Bestatter die Sargdeckel hoch und bereiten die entkleideten Toten für ihre letzte Etappe vor, haken Listen ab. Doch bevor der Computer des Brennofens den eingefahrenen Sarg mit einem dumpfen Piepton anzeigt, werden die metallenen Tragegriffe nicht eben zimperlich mit Hammer und Stemmeisen abgeschlagen.
Weiter, weiter, immer weiter: Heise will zeigen, wie der Mensch auch an diesem Ort funktioniert – im Dienste maximaler Produktivität. Er zeigt das Alltägliche und Fließbandhafte eines industrialisierten Geschäfts, das wenig mit der Selbstdarstellung des Bestattungswesens gemein hat. Mit dem ungerührten, klinisch genauen Blick auf Mensch und Maschine, die den Hauptteil der Arbeit erledigt, gelingt es ihm, den Spannungsbogen zu halten.
Effizient und profitabel
Und zwar auch dann, wenn nicht sofort ersichtlich ist, welcher „Produktionsschritt“ gerade ansteht. Auf einen Kommentar wird gänzlich verzichtet. Von den Beschäftigten sind allenfalls zufällige Satzfetzen wie „Ich bin nicht hierhergekommen, um Ersatzkaffee zu trinken“ zu hören. Der Zuschauer ist also auf sich allein gestellt, um sich zwischen all den Röhren, Schächten und Schaltern zu orientieren. Oder um seine Empfindungen sortieren, wenn die lodernde Asche im Auffangbecken wogt, bevor die „knisternden Knochen“ (Heise) gemahlen werden. So entsteht eine Erzählperspektive frei von Voyeurismus, aber auch frei von Tabus.
Es bleibt wohl dem Erkenntnisinteresse, letztlich auch dem Geschmack des Einzelnen überlassen, sich mit den unkommentierten Bildern vom nimmermüden Rhythmus und davon, wie er die Menschen formt, zufrieden zu geben oder eben nicht. Was spricht dagegen, dürfte sich mancher fragen, ein Krematorium effizient und damit eben auch profitabel arbeiten zu lassen? Wäre es pietätvoller, die Särge erst nach fünf oder sechs Tagen einzuäschern?
Gerne würde man mehr darüber erfahren, wie die Menschen mit dieser Arbeit leben. Sind sie wirklich so abgebrüht, wenn nicht gar gleichgültig, wie sie sich vor der Kamera geben? Und überwiegt die „Normalität“ tatsächlich so krass gegenüber der Pietät, dass ein Nazi-Skinhead im Thor-Steinar-Shirt den Verbrennungsofen klinkern darf, wie die minutenlange Szene in dem unergründlichen Ofenschacht vermuten lässt?
Auch damit lässt uns Heise allein. Doch immerhin lüftet er den Schleier. Schlussendlich beamt er uns mit einem ironischen Regiekommentar in eine der mustergültigsten Sphären eitler Realitätsflucht: den rheinischen Karneval.
Gegenwart (D 2012), ein Film von Thomas Heise, 65 Minuten. Ab sofort im Kino
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