Kultur

Das Klassenziel heißt Anpassung

von ohne Autor · 1. November 2013

Als gute Bürger der „Wissensgesellschaft“ haben Eltern die Qual der Wahl. Sollen sie alles daran setzen, dass sich ihr Kind nach seinem Gusto entfaltet oder gilt es, schon im Kita-Alter auf eine Überflieger-Karriere hinzuarbeiten?

Für den Dokumentarfilmer Erwin Wagenhofer liegt die Antwort auf der Hand.

Populäre Erziehungsberaterinnen wie Katia Saalfrank prägen Sätze à la „Du bist ok, so wie Du bist“. In politischen Debatten über Bildungsreformen ist viel von Leistungsoptimierung, aber wenig von der Förderung individueller Qualitäten die Rede. Ist es nicht nur eine Frage der Zeit bis der Wirtschaftsmoloch China, dem bei vergangenen Pisa-Studien Spitzenwerte attestiert wurden, dem Rest der Welt seine Bedingungen diktiert? Welchen Spielraum und welche Relevanz hat Deutschlands Bildungspolitik überhaupt noch?

Keineswegs legt Wagenhofer in seinem neuen Film „Alphabet“ den Schluss nahe, dass ein einzelner Staat in Bildungsfragen keine eigenen Akzente setzen kann. Vielmehr zeigt er Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten auf, denen sich Gesellschaften gegenübersehen, wollen sie verhindern, dass die schulische Erziehung eines Tages allein auf maximalem Leistungsdruck und bedingungsloser Anpassung beruht – mit unabsehbaren Folgen für die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Ein Aspekt, der  wiederum ins Reich der Mitte weist.

Einmal um die Welt

So global wie das Thema ist auch die Erzählstruktur von „Alphabet“: Nach „We Feed The World“ und „Let's Make Money“ nimmt der Regisseur die Zuschauer erneut mit auf eine Reise quer über den Erdball, um jenen Zusammenhängen und Debatten nachzuspüren, die unseren Alltag prägen. Wie zum Beispiel der Frage nach der richtigen Bildung für kommende Generationen. Dafür befragte er Bildungsexperten verschiedenster Couleur und Berufung in China, Kalifornien und Europa.

Der Standpunkt des Österreichers liegt auf der Hand: Eine Schule, die starren Lehrplänen und einem blinden Leistungsethos folgt und jeden, der nicht ins Raster passt, aussortiert, bringt rücksichtslose Karrieristen und Gewinnoptimierer, aber weder verantwortungsvolle noch einfühlsame Mitbürger hervor. Ein ungeheures Potenzial an Talenten verkümmert. Der Regisseur suchte zugleich nach den Ursachen dafür, was er in jenen Vorgängerfilmen beschrieben hat: den völlig aus dem Ruder gelaufenen Umgang mit Nahrung und Geld in den Industrienationen.

Die erste Station führt in einen Vorort von Peking. Der etwas verlorene Schauplatz zwischen Hochhäusern und Holzverschlägen ist sozusagen ein Paradies. Hier gehen die Kinder der Wanderarbeiter zur Schule. Also der Nachwuchs jener Schicht, die das Regime im besten Fall sich selbst überlässt. Allerdings können diese Kinder nach dem Unterricht ausgiebig spielen oder sonst wie tun und lassen, was sie wollen.

Bis zum Umfallen

Davon, so Yang Dongping, Pädagogikprofessor und Leiter der staatlichen Organisation „Bildung des 21. Jahrhunderts“, können die Altersgenossen aus den besser gestellten Schichten nur träumen. Aberwitzige Vorgaben zwingen sie dazu, im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Umfallen zu lernen. Wegen der großen Nachfrage wurden etliche chinesische Nachhilfe-Anbieter an US-Börsen notiert. Trotzdem scheitern viele Kinder und Jugendliche an selbst gesteckten oder auferlegten Ansprüchen. Seit Jahren explodieren die Selbstmordzahlen. „Sie gewinnen am Anfang und verlieren am Ende“, sagt der Professor in überraschender Offenheit über jene Jugend, die in seinen Augen zu einem Leben gegen ihre Natur gezwungen wird.

Doch auch im deutschen Schulalltag schwinden vielerorts die Freiräume. Manche Heranwachsenden beklagen sich, andere lassen sich mitziehen. Wie zum Beispiel jene jungen Leute, die auf einer Tagung für angehende Führungskräfte in der freien Wirtschaft vor der Kamera beschreiben, wie sie möglichst schnell ihren Erfolg mehren wollen: Für sie ist unbedingter Leistungswille die Voraussetzung für einen hohen Lebensstandard und damit die oberste Priorität. Von einem Bewusstsein für das Gemeinwesen ist nichts zu spüren. Bei diesen Szenen wird einem kalt.

Dennoch malt „Alphabet“ keine düstere Apokalypse. An mehreren Stellen zeigen die befragten Experten auf, dass eine Abkehr von einem weithin auf Industrienormen ausgerichteten Bildungssystem – so die Lagebeschreibung des Göttinger Hirnforschers Gerald Hüther – jederzeit möglich ist. Zum Beispiel, indem im Grundschulalter kein Konkurrenzdenken, sondern eine spielerische Entwicklung mit allen Sinnen verfolgt wird. Ein Ansatz, den der von der UNESCO gewürdigte Pädagoge Arno Stern seit Jahrzehnten auf seinem Malerhof bei Paris praktiziert. Was eine individuelle Förderung, gerade unter scheinbar ungünstigen Vorzeichen vermag, macht Wagenhofer anhand des spanischen Hochschuldozenten Pablo Pineda Ferrer deutlich: Trotz seines Down-Syndroms glaubten die Lehrer seiner Kinderzeit an ihn. Durch die Verfilmung seines Lebens brachte er es sogar zum Kinostar.

Rechtzeitig gewarnt

Andererseits würde man sich mehr Zwischentöne in der Analyse wünschen. Schließlich existieren unzählige Programme an deutschen Kitas und Schulen, die eben keiner stupiden Normierung von Bildungszielen und Vermittlungsformen folgen. Dennoch kommt „Alphabet“ zur rechten Zeit: Kenntnis- und erkenntnisreich, aber durchweg aufgelockert erzählt, warnt der Film vor einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt.

Alphabet (Deutschland/Österreich 2013), ein Film von Erwin Wagenhofer, 109 Minuten.

Ab sofort im Kino

0 Kommentare
Noch keine Kommentare