Kultur

„Das ist ein Hilferuf“

von ohne Autor · 22. März 2012

Man nehme THC statt TNT: Die Tragikomödie „Wer weiß, wohin?“ handelt vom Kampf listiger Frauen gegen den Blutrausch in ihrem Dorf. Im Interview beschreibt die libanesische Regisseurin und Schauspielerin Nadine Labaki, warum die Geschichte weit über den Nahen Osten und das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen hinaus reicht.

vorwärts.de: Das stärkste Bild Ihres Films ist der Trauertanz der Dorffrauen. Was spielte sich dabei in Ihnen ab?
Nadine Labaki: Das ist ein Tribut an all die Frauen in Libanon, die ich um ihre Kinder habe trauern sehen. Noch mehr als 20 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs tragen sie Schwarz. Manche fügen sich Schmerzen an den Haaren zu, andere an empfindlicheren Stellen. Das Leiden ist so groß, dass sie darin die einzige Linderung sehen. Es wird zum Ritual. Jede Familie trauerte in jenen Jahren um jemanden. Ich dachte an meine Tanten, die ihre Kinder auf ziemlich brutale und absurde Weise verloren haben. Somit waren alle beim Dreh emotional aufgewühlt.

Die Frauen jenes fiktiven, aber nahöstlich anmutenden Dorfes, wo zwischen Christen und Muslimen nach Jahren des Friedens die Gewalt entflammt, wirken viel cleverer als die Männer. Was haben sie ihnen voraus?

Ich halte sie nicht für cleverer. Manche Dinge muss man überzeichnen, um zu einer Pointe zu kommen. Auch im echten Leben greifen in der Regel nicht die Frauen, sondern die Männer zu den Waffen. Die meisten Kriege sind den Anlass nicht wert. Sie bringen weder ein gutes Ergebnis noch machen sie aus der Welt einen besseren Ort. Durch die Übertreibung wollten wir die Begründungen für diese sinnlosen Kriege ins Lächerliche ziehen. Andererseits sind nicht nur die Männer schuld an allem Übel.

Die weiblichen Charaktere sind viel komplexer als die männlichen, die allesamt dem Testosteron verfallen. Haben Sie es sich damit nicht zu einfach gemacht?

Es ist ein simples Schema, aber verbunden mit einer klaren Botschaft: Krieg ist dumm und wir haben genug davon. Den Krieg zu stoppen, ist weitaus intelligenter. Das bedeutet nicht, dass Frauen intelligenter sind als Männer. Wenn die Café-Wirtin Amale die Männer anschreit, um ihnen ins Gewissen zu reden, dann ist das für mich mehr als eine Rolle, das bin ich! Gerade für Libanesen ist die Szene von Bedeutung: Es ist ein Hilferuf. Jeden Tag könnten die Kämpfe von Neuem beginnen.

Wenn es die Männer, pointiert gesagt, nicht können: Wünschen Sie sich, dass Frauen im Libanon und dem Nahen Osten eine größere Rolle in der Politik spielen? Was würden sie anders machen?

Es geht nicht darum, dass die Frauen nach der Macht greifen und schon sind alle Probleme gelöst. Sie sollten sich vor allem der Verantwortung bewusst werden, dass sie ihren Teil leisten müssen, damit der Hass ein Ende hat – zum Beispiel, indem sie sich fragen, wie sie ihre Kinder erziehen.

Jenes Dorf steht für ihre Vision, dass Menschen aus verschiedenen Religionen und Kulturen friedlich zusammenleben. Die nahöstliche Realität sieht häufig anders aus.

Natürlich, aber nicht nur dort. Der Film dreht sich nicht nur um ein Problem zwischen Christen und Muslimen, sondern zwischen Menschen überhaupt. Diese Feindseligkeit, diese Angst vor dem und den Anderen kann ihnen überall begegnen: in einem deutschen Mietshaus oder in der Pariser Metro. Wir sind verschieden, aber unfähig, das zu akzeptieren. Ich gebe die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht auf. Wie die aussehen könnte, lässt sich an fiktiven Orten erkunden: Daher heißt das Dorf Utopia. Der Film ist universell zu verstehen, er kennt weder Ort noch Zeit. 

Der Blick auf die Spirale der Gewalt schwenkt automatisch nach Syrien, dem mächtigen Nachbarn des Libanon. Was erhoffen Sie sich von einem Sturz des Assad-Regimes?

Wir sind von dem, was in Syrien geschieht, sehr bewegt und können es nicht mehr mit ansehen, wie Menschen dermaßen brutal umgebracht werden. Da sind viele Hoffnungen, aber auch Ängste, wie bei all den arabischen Revolutionen. Es macht Hoffnung, wenn Menschen ihr Schicksal in die Hand nehmen. Andererseits steigt auch im Libanon der Druck, sich für oder gegen Assad zu entscheiden. Das liegt uns im Blut: Wir bringen einander wegen unserer Haltung zu Syrien um. 

Es gibt einen Moment, wo die Frauen auf ein Wunder warten, um die steigende Gewalt im Dorf einzudämmen. Spiegelt sich darin auch ein Grundübel nahöstlicher Politik wider – das Warten auf eine verklärte Gesamtlösung, anstatt mit kleinen pragmatischen Schritten zu beginnen?
Ein Wunder ist genau das, was wir brauchen! Wir bewegen uns in einem Teufelskreis. Im Libanon fühlt man sich zu wenig mit seinem Land verbunden, sondern zuerst mit einer Seite oder seiner Familie. Wir vergessen, dass wir alle Libanesen sind. Man hat das Gefühl, es kommt nicht auf den Einzelnen an, die Probleme des Landes zu lösen. Die Zusammenhänge wirken viel größer. Daher versuche ich, das Ganze möglichst naiv zu betrachten, ausschließlich vom menschlichen Standpunkt aus.

Wie bewahren Sie sich diese Unabhängigkeit?

Ich sehe die Dinge wie ein ignorantes Kind, das nichts über Politik weiß und keiner Partei angehört. Es schaut sich die ganzen Verrückten an und bewertet sie so, wie es Kinder eben tun. Das, was sie instinktiv und unvermittelt sagen, ist manchmal allerdings alles andere als naiv, nämlich die Wahrheit.

Mit dem Fernsehempfang beginnt das Chaos im Dorf. Wie bewerten Sie die Rolle der Medien in den Verwicklungen des Libanon?
Das zeigt, wie die Außenwelt nach innen wirkt. Wir hören, dass zwei Mitglieder von verfeindeten Parteien einander getötet haben und sind in der Lage, es in unserer Nachbarschaft nachzumachen. Manchmal wird diese Stimmung von den Medien verstärkt. Das gilt für viele Konflikte, nicht nur im Libanon. Zwei Anhänger verschiedener politischer Richtungen sitzen friedlich am Tisch. Einen Moment später gibt es ein Gemetzel. Der Film folgt den Ereignissen von 2008. Eine sunnitische und eine schiitische Partei waren aneinander geraten. Daraufhin griffen die Menschen zu den Waffen. Innerhalb weniger Stunden war Beirut ein Kriegsgebiet. Wichtige Straßen und der Flughafen waren abgeriegelt. Damals war ich schwanger und fragte mich: In was für eine Gesellschaft wird mein Sohn hineingeboren? Würde er als 18-Jähriger im Namen irgendeiner Seite genauso handeln?

Während des libanesischen Bürgerkriegs suchten Sie in Film und Fernsehen Zuflucht vor der Realität. Spielt dieser Zugang heute noch eine Rolle für Sie?
Nein. Der Krieg war ein Teil meines Lebens. Wir konnten weder draußen spielen noch zur Schule gehen. Der Film ermöglichte es mir, dieser eintönigen Realität zu entkommen. Deswegen wollte ich irgendwann selbst Filme drehen. Ich begann, mit der Realität zu experimentieren und wollte ihr dabei so nahekommen wie möglich, um damit auf mein Leben und das der Anderen einzuwirken.

Manchmal trägt Ihr ohnehin märchenhafter Film Züge eines Musicals. Welche Rolle spielt Musik für Sie als Erzählmittel?
Für die entrückte Atmosphäre waren Musik, Gesang und Tanz essentiell. Sobald es losgeht, weiß man, es ist nicht real, selbst wenn die Figuren realitätsnah sind. Mit diesem Widerspruch wollte ich jonglieren. Der Soundtrack trägt die Geschichte auf einer anderen Ebene weiter. All das versöhnt einen mit der Handlung: In diesem Teil der Welt über Religion zu sprechen, ist sehr gefährlic.

Für die Dreharbeiten verpflichteten Sie viele Laiendarsteller aus der Bekaa-Ebene. Wie waren sie für dieses explosive Materie zu gewinnen?

Bei einigen war es nicht leicht. Aber ich bin nicht die Einzige, die von all den Konflikten genug hat. Ein Film wird daran nichts ändern. Trotzdem möchte ich glauben, dass es möglich ist. Wollt ihr mich auf diesem Abenteuer begleiten?Damit habe ich die Leute gekriegt! Sie waren sehr enthusiastisch und respektvoll. Was wir zeigen, ist ihre Realität: In jenem Dorf, wo sich die Türme von Minarett und Kirche gegenüberstehen, hatte es vor langer Zeit Kämpfe zwischen Christen und Muslimen gegeben. Es wurde komplett zerstört. Seit Kurzem kehren die Christen zurück. Man versucht, wieder miteinander zu leben.

In jener Region hat die Hisbollah das Sagen.Wie überzeugten Sie die Radikalislamisten von Ihrem Projekt?
Wir haben die Hisbollah nicht direkt angesprochen. Es gab keine negativen Reaktionen von dieser Seite. Wir haben den Film der Zensur vorgelegt und bekamen ein OK. Das war alles.

Info: „Wer weiß, wohin?“ (Et maintenant on va où?), Frankreich/ Libanon 2011, ein Film von Nadine Labaki, mit Claude Baz Moussawbaa, Layla Hakim, Nadine Labaki u.a., 100 Minuten. Kinostart: 22. März, www.werweisswohin-derfilm.de

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