"Wir sind eben alle ziemlich harte & scharfkantige Brocken, die sich darum schwer aneinander schmiegen können." So beschreibt Ludwig Wittgenstein 1929 das Verhältnis der acht Kinder Karl Wittgensteins. Dessen Aufstieg zum Stahlmagnaten schildert Alexander Waugh knapp. Eingehender widmet er sich den Nachkommen von Karl und Leopoldine Wittgenstein.
Selbstmörder und alte Jungfer
Von den insgesamt fünf Söhnen der Wittgensteins wählt einer, Rudolf, nachweislich den Freitod. Ein zweiter Sohn verschwindet spurlos. Irgendwann entschließt sich die Familie anzugeben, er
habe sich umgebracht. Ein dritter Wittgenstein-Spross stirbt in den letzten Tagen des Ersten Weltkrieges. Auch hier ist ein Suizid nicht völlig ausgeschlossen. Das betont Waugh und gibt
sämtliche, in der Familie kursierende, Versionen zu dessen möglichem Selbstmord wieder. Wenn auch keine belegt werden kann - Stoff für Unterhaltung bieten sie dem Autor allemal.
Die drei Töchter Karl Wittgensteins leben die Rollen, die das Großbürgertum des 19. Jahrhunderts für seine Frauen vorsah: Sie erfüllen gesellschaftliche Verpflichtungen und heiraten. - Mit
Ausnahme der ältesten Tochter, Hermine Wittgenstein, die Alexander Waugh - ganz den bürgerlichen Vorstellungen entsprechend - als alte Jungfer beschreibt. Die Lebensläufe sind im Buch
nachgezeichnet. Im Mittelpunkt stehen allerdings die beiden jüngsten Söhne des Hauses: Ludwig, der mit dem Vermögen der Familie nichts zu tun haben wollte, und ein herausragendes philosophisches
Werk vorlegte. Und Paul, der im Ersten Weltkrieg einen Arm verlor und trotzdem ein gefeierter Konzertpianist wurde. Ihm widmet sich der Autor am eingehendsten.
Exzentriker
Alexander Waugh versucht sich an einer Art Gesamtbiographie der Wittgensteins. Doch genau das, macht die Sache schwierig, wenn nicht gar unmöglich: Historisch fallen in diesen Zeitraum zwei
Weltkriege. Und im Fokus stehen immerhin acht Geschwister, die in jeder Hinsicht denkbar unterschiedlich sind - von Ludwigs Bekenntnis "Im Herzen bin ich Kommunist", bis hin zu Pauls
Unterstützung der militanten Rechten Österreichs. Auch wenn Waugh beständig auf die allen gemeinsame Exzentrik verweist. Massive Verkürzungen sind notwendig, um auch nur einen Überblick zu geben.
Befremdlich ist zunächst die Sensationslust des Autors. Da wird über Selbstmorde spekuliert und der Sexualität der Geschwister ist gar ein eigenes Kapitel gewidmet. Zwar wird in diesem in
erster Linie gemutmaßt, doch die "frigide" Schwester Gretl und Ludwigs möglichen Kontakt zu männlichen Prostituierten will Waugh nicht unerwähnt lassen. Und so verlässt er sich bisweilen eben auf
"Intuition", wie er einräumt. Auffällig dabei ist ein misogyner Unterton, der auch an anderen Stellen des Buches deutlich wird. Etwa wenn von der "pferdegesichtigen Geliebten" die Rede ist,
während Ludwig Wittgenstein ein "markantes Äußeres" aufweist.
Fragwürdige Lektüre
Unangebracht sind zahlreiche psychologisierende Kurzschlüsse. So führt Waugh den ausgeprägten Individualismus der männlichen Wittgensteins auf ihren Privatunterricht zurück und stellt die
Beziehungsprobleme Pauls und Ludwigs als dessen Folge dar. Auch wird der despotische Patriarch Karl ganz selbstverständlich als eine Ursache der Probleme seiner Söhne präsentiert. Völlig
unzureichend sind Waughs Interpretationsversuche von Ludwig Wittgensteins singulärem philosophischem Werk. Diesem kann der Musikkritiker - im Gegensatz zu Pauls Arbeit - offenbar wenig
abgewinnen. Er präsentiert das Bild eines versponnenen Denkers, an dessen "mystisch-philosophischem" Werk sich willige Philosophen "die Zähne ausbeißen können".
Überflüssig sind die ausführlichen Hitler-Zitate, die zur Darstellung des politischen Umfelds herangezogen werden. Höchst bedenklich bleiben Formulierungen Waughs, wie diese, im Zusammenhang mit der Shoah stehende: "Drei Jahre später war die Emigration der Juden aus dem Reich noch immer nicht abgeschlossen, und Hitler schäumte vor Ungeduld." Auch die "bizarre Politik der Nationalsozialisten" ist eher ein Euphemismus als eine Beschreibung des menschenverachtenden Regimes. Absolut befremdlich ist Waughs Interpretation Hitler wollte "das gesamte deutschsprachige Europa so friedlich wie möglich zu einem einzigen Deutschen Reich unter seiner Führung vereinen."
All das macht das sensationslustige Buch, das zunächst an die kurzweilige Hof-Berichterstattung illustrierter Zeitschriften erinnert, zu einer fragwürdigen Lektüre ohne Erkenntnisgewinn.
Birgit Güll
Alexander Waugh: "Das Haus Wittgenstein. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Familie" Aus dem Englischen von Susanne Röckel, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 2009, 440 Seiten, 24,95
Euro, ISBN 978-3-10-092220-5
Goetz Schleser
ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.