1. Dem Lese-und Hörpublikum sind Sie bisher als Theater-Hörspiel-und Prosaautorin bekannt. Nun haben Sie Ihren ersten Roman mit dem sehr schönen, rätselhaft-suggestiven Titel " Das haarige
Mädchen" vorgelegt. Darin geht es um das sehr kurze Leben eines außergewöhnlich gebildeten, ganz mit Fell bedeckten zwölfjährigen Mädchens der Renaissance, das auf ihrer Reise von Antwerpen über
Parma nach Bologna zwischen die Religionsfronten und zuletzt in die Fänge der wütenden Inquisition gerät. Was reizte sie an einem Stoff aus dem 16.Jahrhundert?
Mich interessierte besonders das Fremde in seiner Selbst-und Fremdwahrnehmung in dieser an Verfolgung reichen Zeit. Um den Beginn einer neuen Subjektivität zu verdeutlichen, wählte ich die
Perspektive eines als Monster bezeichneten Mädchens. Damals wie heute eignet sich das Fremde als Projektion kollektiver Ängste.
2. Traditionellerweise steht in einem historischen Roman eine herausragende historische Persönlichkeit im Zentrum. Sie aber umweben eine unbekannte Figur. Worin besteht die Besonderheit des
haarigen Mädchens?
Zunächst eingeschüchtert durch ihr Außenseitertum, entwickelt das haarige Mädchen eine Art Selbstbewusstsein. Dabei hilft ihr die Bildung, die sie am Hof als Waffe einsetzt, gefährlich für
die damalige Zeit.
Als Inbegriff einer historisch vermittelten "Hässlichkeit", die konträr zum klassischen Schönheitsideal steht, zieht das haarige Mädchen Ekel und Widerwillen auf sich, aber auch Faszination
und Begehren. Durchaus gefährdet, zerbricht sie nicht, sondern entwickelt Widerständigkeit gegenüber herrschenden Fremdbildern.
3. Im besten Sinne äußerlich-gestisch bieten Sie keine psychologisch motivierte Innenschau der Figuren. Möchte Sie in ihrem impressionistischen Schreibgestus, der die Zeit um 1580 wie ein
Genregemälde literarisch zeichnet, den Bogen zur Gegenwart schlagen?
Ja, durch diesen Schreibgestus erfährt man die historische Realität als eine konstruierte, als eine flüchtig-skizzierte, der man sich nur durch eine gegenwärtige Sprache annähern kann. Auch
entstehen durch aufblitzende sprachliche Bilder Assoziationen, die eigene Sinneseindrücke ermöglichen.
4. Die Sinnesorgane Auge und Ohr spielen eine große Rolle. Überall wird getuschelt, Worte werden solange im Mund herumgedreht, bis sie entstellt als gefährliche Gerüchte kursieren. Ist dies
ein Tribut an das Zeitalter des Misstrauens, der Verstellung und des Schauspiels oder spricht hieraus auch die Dramatikerin?
Beides. Noch heute basiert gesellschaftliche Kommunikation auf Verstellung, Maskerade, Klatsch und Gerücht. Auch die Massenmedien funktionieren so. Häufig genug versteht man das, was man
verstehen will. Auch in meiner Arbeit als Theater-und Hörspielautorin interessiert mich Sprache als ein Ort der bewussten Verstellung und der unbewussten Inszenierung.
5. Das haarige Mädchen verschwindet. Wurde sie getötet? Der Roman lässt das offen. Kann das fellbedeckte Tiergesicht als ein Gleichnis dafür gelesen werden, das das auffällige Andere
gesellschaftlich nicht bestehen kann?
Indem ich das Ende offen lasse, gibt es verschiedene Lesarten des Romans. Das Andere wird als das eigene Fremde, das bedrohlich ist, gesellschaftlich vernichtet. Die Gemeinschaft "reinigt"
sich von dem Fremdkörper, das sie selbst nicht integrieren kann, gefangen in ihren eigenen Projektionen. Gelingt dem "haarigen Mädchen" die Flucht, so kann das Fremde an den Rändern einer
Gesellschaft überleben.
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