Kultur

Das Ende der Gegenwartsverachtung

von Die Redaktion · 29. Juni 2006

Sie seien die "ersten arbeitslosen Akademiker", die von der Sozialhilfe leben. Sie seien die "Opfer der Erosion des Sozialstaats". Sie lebten von der Hand in den Mund und ihre Perspektive würde immer enger, immer verkürzter. Sie haben die 30 hinter sich und wünschten sich zurück in eine Zeit, in der der Arbeitsmarkt nach Leuten wie ihnen geradezu lechzte. So beschreibt Christian Schüle das, was die Generation der zwischen 1970 und 1975 Geborenen am deutlichsten verbindet - der Wunsch nach beruflicher und damit verbundener ökonomischer Stabilität, dem das Muss zu Wagnis und Risiko gegenübersteht.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Der Autor ist kein Schwarzmaler. Er schildert lediglich sehr treffend, was er bei seinen Altersgenossen im Deutschland des Jahres 2006 beobachtet. Und er bringt es mit einem wunderbaren Satz auf den Punkt: "Wir wollen uns die Verachtung der Gegenwart nicht mehr leisten." Was so viel bedeutet wie "lasst uns besser erst morgen an morgen denken", jedoch keineswegs heißt chaotisch zu sein oder sich nicht mit der eigenen Vergangenheit zu beschäftigen. Denn die These, dass nur diejenigen verstehen, die wissen, wo sie herkommen, gilt auch und vielleicht sogar um so mehr für sie.

Ja, wir - der Verfasser dieser Zeilen gehört zur fraglichen Generation - waren mit die ersten, die sich mit AIDS auseinandersetzen mussten. Wir wurden in den tristen 80ern sozialisiert, in denen das Land unter der bräsigen Gemütlichkeit eines Helmut Kohl und in dem Glauben daran, dass die Glückseligkeit für immer währe, vor sich hin schlief. 1986 durften wir dann plötzlich kaum noch etwas essen, weil in Tschernobyl ein Reaktor explodierte. Und wir gehören zu denen in Ost und West, denen wiederum Kohl wider besseres Wissen mit der deutschen Einheit "blühende Landschaften" versprach. Zur Belohnung blieb jener bis 1998 Bundeskanzler, während uns - oft noch an der alma mater - so langsam aufging, dass es mit der Gemütlichkeit ein für alle Mal vorbei sein würde, besonders für uns.

Christian Schüle hat Recht, wenn er unsere Generation als "Verantwortliche von morgen" ausruft. Er liegt richtig, wenn er schreibt, es sei "gut und billig, Auskunft zu geben über die eigene Mentalität, die geistige, moralische und seelische Verfassung", die wir haben. Denn wir rechnen nicht mit einer sicheren Rente und nicht mit dem Zahnersatz; wir rechnen damit, für die Gesundheit viel Geld zu bezahlen. Und wir räumen uns das Recht ein, gehört zu werden. Christian Schüle verleiht diesem Recht mit "Deutschlandvermessung" pointiert Ausdruck. Glänzend reflektiert er seinen Lebensweg stellvertretend für uns alle, da wir auf eine die eine oder andere Art und Weise sein Schicksal teilen. Bleibt zu hoffen, dass auch Zugehörige anderer Generationen Schüles Buch lesen.

Holger Küppers



Christian Schüle: "Deutschlandvermessung, Abrechnungen eines

Mittdreißigers", Piper Verlag, München und Zürich 2006, 192 Seiten, 16,90 €,

ISBN 3-492-04835-8

0 Kommentare
Noch keine Kommentare