Eine Wiederentdeckung. Ernst Haffners Roman „Blutsbrüder“ erzählt vom Leben obdachloser Jugendlichen im Berlin der Weimarer Republik. 1932 ist er erschienen. Die Nationalsozialisten haben ihn verboten, die Spur des Autors verliert sich in den 1930er Jahren. Nun hat der Metrolit Verlag das Buch neu veröffentlicht.
Die Straßen rund um den Alexanderplatz: Hier haben die Elenden im Berlin der Weimarer Republik ihr Quartier. Hier tummeln sich auch die obdachlosen Jugendlichen, von denen Haffner erzählt. Sie sind übrig geblieben, nach dem der Erste Weltkrieg Familien zerstörte und die Armut anschwoll. Elterliche Fürsorge kennen sie nicht: „Vater war im Krieg oder stand bereits auf der Verlustliste. Und Mutter drehte Granaten oder hustete ihre Lunge in den Pulver- und Sprengstoffabriken zentigrammweise aus. Die kohlrübenbauchigen Kinder – nicht einmal mehr kartoffelbäuchig waren sie – luchsten in Höfen und auf den Straßen nach Eßbarem. Wuchsen sie heran, gingen sie rudelweise auf Raub aus. Raub, um die Bäuche zu füllen. Bösartige, kleine Raubtiere.“
Gemeinsam überlebt es sich leichter
Eindringlich schildert der Autor die Lage seiner Helden. Viele sind aus Fürsorgeanstalten geflohen, in denen Drill und Unterdrückung herrschten. In der Stadt können sie untertauchen, hier haben sie sich zu Cliquen zusammengefunden. Gemeinsam ist das Überleben leichter als alleine. Haffners „Blutsbrüder“ sind eine dieser Cliquen, eine Jungen-Bande. Ihr Anführer, ihr „Bulle“ heißt Jonny. Er sagt wo’s lang geht. Er sorgt dafür, dass sie zu Essen kriegen und einen Ort finden, an dem sie die Nacht verbringen können.
Die Leser folgen den Jungs in rauchige, überfüllte Kaschemmen – laut, voll aber warm, „eine Art Zu Hause für den, der es nicht hat“. Es geht in die Wartesäle des Bezirkswohlfahrtsamts Berlin-Mitte. Hier können Anträge auf „E.H.“, Erwerbslosenhilfe, gestellt werden. Von den Bedürftigen in „Ewige Hilfe“ umbenannt, denn Arbeit gibt es kaum, die Arbeitslosigkeit hat Anfang der 1930er einen Höhepunkt erreicht. Immer tiefer führt Haffner in die dunklen Ecken des Berlins dieser Zeit. Ackerstraße Ecke Elsasserstraße, hier ist die Wärmehalle. Beim Lesen richt man förmlich den Gestank, den jene erleben die sich wärmen wollen, in der „verzweifelten Trostlosigkeit, der auf dreißig Grad erhitzten Unhygiene“.
Von Diebstahl und Prostitution
Die „Blutsbrüder“ sind zwischen 16 und 19 Jahre alt, volljährig ist man nach den Gesetzen der Weimarer Republik erst mit 21. Wenn die Polizei sie erwischt, landen sie im Heim. Papiere haben die Minderjährigen keine, so kriegen sie weder staatliche Unterstützung noch einen Arbeitsplatz. Was bleibt sind Diebstähle und Prostitution. In den Fürsorgeanstalten haben sie gelernt, wie man stiehlt und wo man in Berlin auf den Strich geht. Letzteres auf dem Kurfürstendamm, er ist das Gegenstück zu den Proletarierquartieren. Hier warten betuchte Freier. Auch Ludwig und Willi fahren eines Tages in diese „reiche, schöne Fremde“, in der die Menschen nach Pomade und Parfum statt nach muffigem Keller riechen. Hier kaufen betuchte Herren die Körper der hungrigen Jungs.
Ernst Haffner, Journalist und Sozialarbeiter, lässt seine Figuren über die Filme der Zeit, die „das Milieu“ zeigen wollen spotten. „Edelganoven, die nur in Frack und Lack einbrechen gehen“ und „rassigen Zwei-Mark-Nuttchen“ bevölkerten die Filme. „Und weil die wahre Berliner Unterwelt in ihrem sozialen Elend durchaus nicht Kurfürstendammgeschmack ist, dichtet man Berlin eine Unterwelt an, ... in der es wie beim Herrgott in Frankreich zugeht.“
Haffners Blutsbrüder lügen und betrügen. „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, heißt es bei Brecht. Wenn die Blutsbrüder Geld haben, kaufen Sie Essen, Alkohol und Prostituierte. Wenn sie keines haben, stehlen sie. Wer erwischt wird, wandert in den Knast. Wer versucht ehrlich zu leben, kann auch dort landen. Das müssen Willi und Ludwig erfahren, als sie sich von den Blutsbrüdern lösen wollen. Das Elend, das Haffner schildert ist schmutzig und stinkt. Seine eindringlichen Schilderungen hallen lange nach.
Ernst Haffner: „Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman“, Metrolit Verlag, Berlin 2013, 262 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-8493-0068-5
Goetz Schleser
ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.