Karl von Kahn ist verheiratet. Seine Frau Helen, Eheberaterin, gehört zur sogenannten Kulturfraktion. Er gehört nicht dazu, will das auch nicht. Denn für ihn bedeutet "Kulturfraktion" nur
stundenlange Diskussionen über Weltverbesserung. Politikern, Künstlern, Dichtern, Philosophen - allen muss es, von Berufs wegen, ums Weltverbessern gehen. Karl benötigt keine "Umwege dieser Art".
"Dass Einzelne sich berufen fühlten, die Welt zu verbessern", kommt ihm vor "wie eine Anmaßung."
Walsers Held ist also still wenn die verhasste "Kulturfraktion" spricht. Seine Aufgabe ist das Zuhören - in seiner Ehe und in seinem Beruf als Anlageberater. So erfährt er, was seine Kunden
brauchen, so vermehrt er ihr Geld. Walsers Figur singt ein Loblied auf das Geldvermehren. Es sei die einzig menschliche Tätigkeit, die auch wenn sie um ihrer selbst willen betrieben werde, Werte
produziere. Allerdings weiß Karl, dass das Geldvermehren nichts gilt im Kreis der "kulturellen Fraktion". Hier geht es um endlose Gespräche, bei denen es keine Redite gibt. Deshalb schweigt Karl
von Kahn, leidet unter dem "Verfälschungszwang" und hofft auf Erlösung.
Walser nutzt Karl von Kahns Ausführungen über die "Kulturfraktion" auch zum Rundumschlag gegen die Linken. Sie "kennen den Zweifel nicht", ihre Moral mache sie unfehlbar. Allerdings, "die
Moral schützt vor Verständnis. Sie konstruiert das Gute nur, um das Böse zu schaffen. Unter dem Vorwand, es zu beseitigen. Interessiert ist die Moral nur am Bösen."
So allein wie von Kahn mit seinen Ansichten über die "Kulturfraktion" ist, ist er es auch mit seiner Angst vor dem Alter. Und er ist alt, genau wie seine Kunden. Karl von Kahn wehrt sich
gegen das Alter und gegen den Gedanken an den Tod. Doch das wird zunehmend schwieriger. Noch mehr als sein Bruder 79-jährig Selbstmord begeht - frisch verliebt und aus Angst vor dem Alter.
Dann tritt die 40 Jahre jüngere Joni Jetter in Karl von Kahns Leben. Er soll einen Film mitfinanzieren, in dem Joni die Hauptrolle spielt. Sie ist der Köder, der Karl dazu bringen soll zu
investieren. Schon beim ersten Treffen ist Karl von der 33-jährigen Schauspielerin überwältigt. "Auf das Gesicht kam es vorerst nicht an. ... Die Hauptsache wurde offen, halboffen ausgestellt. Die
Brüste. Halb standen sie dem Kleid zur Verfügung, halb der Öffentlichkeit." Karl von Kahn verfällt Joni Jetter sofort.
Natürlich - wir sind bei Walser - will Karl von Kahn wegen Joni nicht auf Heim und Herd verzichten. Denn "mehrere Frauen schließen einander überhaupt nicht aus. Jede ist anders als alle
anderen. Man kann nicht sagen, man könne Abends keinen Apfel essen, weil man mittags Schnitzel gegessen hat." (Selbstverständlich gelte das auch für Männer, wird eingeräumt.) Ein Glück für den
Walser-Helden, hat er doch Helen "seine liebe, sanft fröhliche Frau", die für ihn kocht. Und Joni, die ihn anruft mit den Worten "Ich möchte deine Eier lecken." Worte, die Karl aus Helens Mund
schockiert hätten. Die Heilige und die Hure sind streng getrennt. Es folgen Altmänner-Sexphantasien auf fast 300 Seiten.
Sein Verhältnis mit Joni Jetter lässt Karl von Kahn sein Alter unerträglich werden. Schamhaft versteckt er seine Krampfadern vor ihr. Ein gemeinsamer Blick in den Spiegel, eine gemeinsame
Wanderung - überall wird ihm sein Alter bewusst. Er kann sich seine Alterserscheinungen nicht eingestehen, würde das als ständige Niederlage empfinden. Lieber erträgt er es, sich "im Dienste der
gewöhnlichen Verzweiflungsvermeidung" lächerlich zu machen. Seine Abhängigkeit lässt ihn verlieren, was ihm bis dahin das Wichtigste in seinem Leben war: seine Unabhängigkeit.
Mit Karl von Kahn geht es rasant bergab. Er kümmert sich nicht mehr um seine Firma. Helen verlässt ihn. Als auch Joni geht, macht ihn das haltlos. Alles kreist um das Thema Sex. In seiner
Phantasie sprechen ihn die schönsten Frauen auf der Straße unverblümt an: "Ich hab noch einen Fick gut bei dir." "Ich habe heute nacht von deinem Schwanz geträumt." Seine Angst vor dem Alter kostet
den Walser-Helden den Verstand.
Nach fast 500 Seiten hat der Leser die "Angstblüte" hinter sich gebracht. Eine neue Varitation des alten Walser Themas - und entschieden mehr Altmänner-Sexvorstellungen als erträglich sind.
Martin Walser "Angstblüte". Rowohlt Verlag, 2006, 477 Seiten, 22,90 Euro, ISBN 3498073575
Birgit Güll
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