Corona-Krise: „Ich habe meine Sozialkontakte um 99,8 Prozent reduziert.“
In ihrer Fernseh-Ansprache hat Bundeskanzlerin Angela Merkel an das Verantwortungsbewusstsein der Bevölkerung in der Coronakrise appelliert. Hat sie damit den richtigen Ton getroffen?
Für einen Großteil der Bevölkerung hat Angela Merkel mit ihrer Ansprache alles richtig gemacht und für einen kleinen Teil alles falsch.
Inwiefern?
Es gibt vier Reaktionsmuster auf die Coronakrise. Manche Menschen bauen eine extreme soziale Autorität auf und verlangen von allen anderen, dass sie nun unbedingt zuhause bleiben und solidarisch sein müssten. Dabei sind sie schon fast missionarisch unterwegs. Für sie hat Merkels Rede ins Schwarze getroffen. Eine zweite Gruppe will auch solidarisch sein, aber dabei nicht alle Freiheiten einschränken. Alleinlebende zum Beispiel haben gerade Angst davor, dass sie bei einer Ausgangssperre vollkommen isoliert sein könnten. Auch bei ihnen dürften Merkels Worte gut angekommen sein, weil sie keine Verschärfung angekündigt hat, ebenso wie bei einer dritten Gruppe: denjenigen, die das Ausmaß der Krise noch nicht so richtig wahrhaben wollen, sich aber auch nicht sonderlich eingeschränkt fühlen.
Und bei wem sind Merkels Worte nicht angekommen?
Bei denjenigen, die eher auf dem Kurs des Österreichischen Kanzlers Sebastian Kurz sind und sehr autoritär denken. Diese Menschen sind fest davon überzeugt, dass die Coronakrise nur mit strikten Verboten wie einer Ausgangssperre bekämpft werden kann. Aus ihrer Sicht hat Angela Merkel mit ihrer Ansprache versagt.
Sie halten sich bereits seit einiger Woche freiwillig größtenteils nur noch in den eigenen vier Wänden auf. Sind Sie dafür, eine Ausgangssperre zu verhängen?
Das ist eine extrem schwierige Entscheidung. Ich bin weder Virologe noch Arzt und kann deshalb auch keine fachliche Einschätzung dazu abgeben, ob die bisher getroffenen Maßnahmen ausreichen, um die Ausbreitung des Corona-Virus zu stoppen. Ich bin Politikwissenschaftler und kann nur auf die Dynamiken in der Gesellschaft schauen. Deshalb kann ich mit Gewissheit sagen, dass es nicht funktionieren wird, ein einziges Lebensmodell für eine Bevölkerung von 82 Millionen Menschen zu verordnen. Dafür sind die Bedürfnisse zu unterschiedlich. Jede Maßnahme, die getroffen wird, muss den Spielraum offenhalten, dass Menschen Dinge unterschiedlich tun können. Etwas anderes ist in einer liberalen Gesellschaft wie unserer nicht durchzusetzen. Wenn der Staat zu autoritär auftritt, kann er damit auch Trotzreaktionen hervorrufen, sodass sich die Menschen an gar keine Regeln mehr halten. Das wäre höchst gefährlich.
Schafft die Bundesregierung mit ihrem Kurs einen ausreichenden Ausgleich zwischen individueller Freiheit und dem Schutz der Allgemeinheit?
Meines Erachtens kriegt die Bundesregierung das zurzeit an vielen Stellen gut hin. Selbst wenn es in einigen Tagen bundesweite Ausgangssperren geben sollte, wird es darauf ankommen, wie diese ausgestaltet sind und welche individuellen Freiheiten es trotzdem noch gibt, etwa, dass man nicht nur mit der eigenen Familie Kontakt haben darf. Denn das wäre z.B. für Singles ein großes Problem. Belgien hat aus meiner Sicht ein gutes Konzept gefunden: Man darf zu zweit spazieren gehen.
Sie haben die Zeit zuhause genutzt und einen Essay über „Freiheit und Pandemie“ geschrieben. Darin schreiben sie, Deutschland brauche im Kampf gegen Corona „ein Modell der Verhaltensänderung, das im Ziel einig, aber im Weg unterschiedlich ist“. Wie könnte das aussehen?
Ich bin beruflich extrem viel unterwegs und habe unter normalen Umständen mehr als 1000 Sozialkontakte pro Woche. Vor einer Woche habe ich beschlossen, mein Leben komplett zu ändern und nur noch im Homeoffice zu arbeiten, auch wenn es extrem schwerfällt. Im Moment habe ich noch zwei Sozialkontakte. Damit bin ich voll auf Linie der Bundesregierung, auch wenn ich mit beiden Kontakten nicht verwandt bin. Damit will ich sagen: Auch wenn mein Weg ein anderer ist – das Ziel, möglichst wenige Menschen zu treffen, bleibt dasselbe. Ich habe meine Sozialkontakte um 99,8 Prozent reduziert.
Wieviel individuelle Freiheit kann es noch geben, wenn die Gesellschaft als Ganzes gefährdet ist?
Eine Demokratie, die Reise- und Versammlungsfreiheit garantiert, nimm die Risiken, die damit verbunden sind, bewusst in Kauf. Die Situation durch Corona ist eine besondere. Wir haben es mit einem Virus zu tun, dessen Tödlichkeit nicht komplett bekannt, dessen Verbreitung aber sehr schnell ist. Da ist es logisch, dass die Regierung zeitlich begrenzt das Verhältnis von Freiheit und Autorität verschiebt, um die Bevölkerung zu schützen. Das kann und darf aber nicht bedeuten, dass die Freiheit komplett verschwindet. Dieses Spannungsverhältnis ständig neu auszutarieren, ist im Moment die wichtigste Aufgabe der Politik.
Auch wenn Ausgangssperren in Deutschland noch nicht an der Tagesordnung sind, ist die Freiheit der Menschen bereits deutlich eingeschränkt. Lässt sie sich, wenn die Coronakrise vorbei ist, einfach wieder zurückholen?
Wenn die Phase der Einschränkungen nur vier Wochen dauert, sehe ich da kein Problem. Wenn sie vier Monate oder noch länger andauern sollte, könnte es zu einem Problem werden. Nach der Pandemie wird unsere Gesellschaft eine andere sein. Sie wird mehr zu autoritären Mustern neigen als bisher. Hinzu kommt, dass trotz aller Schutzmaßnahmen viele Menschen sterben werden. Die Traumaforschung weiß, dass die Menschen nach einem so einschneidenden Erlebnis nicht einfach zur Tagesordnung übergehen können, zumal es eine tiefe Angst vor Viren bisher in unserer Gesellschaft nicht gab. Das wird nach Corona anders sein. Und das nächste Virus, wie auch immer es heißt, wird sicher kommen. Die Herausforderung wird sein, dann genau abzuwägen und nicht mit automatisch denselben Mustern darauf zu reagieren, wie es jetzt bei Corona nötig ist. Deshalb sollten wir auch auf keinen Fall jetzt im Krisenmodus etwas an der Verfassung ändern. Das kriegen wir hinterher nämlich nicht wieder zurückgedreht. Transparenz ist bei allen Maßnahmen, die ergriffen werden, das Allerwichtigste. Hinterher wird es darauf ankommen, Aufklärungsarbeit für die liberale Gesellschaft zu leisten. Auch dafür habe ich mein Büchlein genau jetzt geschrieben.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.