Corinna Harfouch im Drama „Lara“: Ehrgeizig bis zum Ruin
Manchmal verdichtet sich ein ganzes Leben an einem einzigen Tag. Für Lara Jenkins (Corinna Harfouch) ist es ihr 60. Geburtstag. Wäre es nach ihrem Willen gegangen, wäre es ihr letzter Tag gewesen. Doch ein Zufall hält sie davon ab, im Morgengrauen aus dem Fenster ihres Wohnblocks zu springen.
Einsamkeit, Enttäuschungen, Entfremdung
Fortan verfolgen wir, wie sie sich die pensionierte Verwaltungsbeamtin – sie träumte von einer großen Karriere als Pianistin, scheiterte aber an ihren eigenen Erwartungen – zurück ins Leben kämpft. In den letzten Jahren war dies von Einsamkeit, Enttäuschungen und Entfremdung geprägt. Ist es für Lara zu spät, um neu anzufangen?
Als wäre nichts gewesen, schlüpft sie in ein strenges Kostüm und begibt sich auf eine rastlose, scheinbar ziellose Tour durch Berlin. Was folgt, ist ein ruhiger Strom an Bildern, die im Kontrast zu Laras innerer Anspannung stehen. Am Abend wird ihr Sohn Viktor, übrigens ein erfolgreicher Pianist, zum ersten Mal eine eigene Komposition vorstellen. Doch seine Mutter ist offenbar nicht zum Premierenabend im Konzerthaus eingeladen. Das Verhältnis ist nicht das Beste. Zerknülltes Papier auf ihrem Wohnungstisch zeugt von erfolglosen Versuchen, per Brief mit dem Sohn Kontakt aufzunehmen. Wo eine Lücke zwischen den Buchregalen klafft, stand bis vor Kurzem sein Klavier. Dorthin war am Morgen Laras leerer Blick gewandert.
Vor den Kopf gestoßen
Lara begegnet dem, was ihr als Ablehnung erscheint, auf ihre Art: Kurzerhand kauft sie sämtliche Restkarten für Viktors Konzert und verschenkt Tickets an Menschen, denen sie an diesem Tag begegnet. Es sind Zufallsbekanntschaften, aber auch Leute, die sich um sie bemühen und mal mehr, mal weniger elegant von ihr zurückgewiesen werden. Schon nach wenigen Minuten wird klar, dass der Konzertabend den dramatischen Höhepunkt bildet. Für Lara und Viktor wird er auf vielerlei Weise zur Grenzerfahrung. Doch auch diese Situation birgt überraschende Wendungen.
Wer nicht für seine Träume kämpft, läuft Gefahr, in einem falschen Leben gefangen zu sein. Das ist die zentrale Botschaft von Jan-Ole Gersters zweitem Kinofilm. Der ließ sich dabei nicht nur vom Skript des slowenischen Drehbuchautors Blaž Kutin inspirieren, sondern auch von den Irrungen und Wirrungen seines persönlichen Weges als Künstler. Tatsächlich lässt sich Laras Geschichte auf alle anderen Formen eines Lebensentwurfs übertragen. Wie schon in „Oh Boy“ kreist die Handlung um das innere Chaos der Hauptperson.
Alte Muster von lakonischer Unbarmherzigkeit
Das, was Lara beschäftigt, wird Schicht um Schicht entschlüsselt. Weil sie sich selbst für nicht ausreichend talentiert hielt, trieb sie Viktor in jungen Jahren zu Höchstleistungen an. Um den Preis, dass sie ihn verlor. An diesem Tag versucht sie nun, die Verbindung mit Viktor wiederherzustellen. Doch bei einem ungeplanten Zusammentreffen vor dem Konzert wird deutlich, wie sehr die alten Muster sie noch immer beherrschen.
Das zeigt sich auch, als Lara am Nachmittag ihren Klavierlehrer von damals aufsucht. An seiner statt trifft sie im Übungssaal der Musikschule einen 13-jährigen Klavierschüler an. Prompt schlüpft sie in ihre alte Rolle. Mit lakonischer Unbarmherzigkeit treibt sie auch diesen Jungen beim Üben an. Ihr Urteil ist vernichtend: „Das wird peinlich für alle Beteiligten, wenn Du von Note zu Note stolperst. Deine armen Eltern. Kein Biss, kein Ehrgeiz. Vielleicht doch lieber Trompete?“
Faszinierende Kontraste von Sehnsucht und Boshaftigkeit
Doch auch Lara muss an ihrem Ehrentag einige Verletzungen wegstecken. Jede Gemeinheit, die sie anderen zuteilwerden lässt, erscheint als ein Reflex auf alles, was sie selber ertragen muss(te). Gerade dieses Nebeneinander von Verletzbarkeit und Sehnsucht nach Nähe auf der einen und Kalkül, Durchtriebenheit und Boshaftigkeit auf der anderen Seite macht diese Figur so faszinierend.
Corinna Harfouch vollzieht das Mäandern von Extrem zu Extrem mit scheinbarer Leichtigkeit, doch hinter jedem dieser fast schon hingehauchten Kontraste tun sich Abgründe einer am Boden zerstörten und orientierungslosen Protagonistin auf. Mit diesem Spagat liefert die 65-Jährige eine der besten Leistungen ihrer Karriere ab. Mitunter erinnert Lara in ihrer ebenso spröden wie beherrschten Hülle an die von Isabelle Huppert verkörperte Klavierlehrerin in Michael Hanekes gleichnamigem Kinodrama, ohne allerdings deren radikale Destruktivität zu erreichen. Gleichwohl weckt auch Lara eher Mitleid als Sympathie hervor.
Schwierige Liebe zwischen Mutter und Sohn
Wie schon in „Oh Boy“ übernimmt Tom Schilling auch diesmal einen tragenden Part. Als Viktor ist er nicht in der Hauptrolle, wohl aber als Charakter zu erleben, um den sich ziemlich viel dreht, selbst wenn er physisch meist abwesend ist. Als ambitionierter, aber auch an sich zweifelnder Künstler wirkt er wie ein Spiegelbild Laras.
Es scheint eine Weile zu brauchen, bis sich Lara und Viktor darüber klar werden, was sie verbindet. Somit erzählt dieser so tieftraurig startende, aber auch leisen Humor bietende und gerade wegen seines kargen Realismus atmosphärisch dichte Film nicht nur von der Liebe zur Musik, sondern auch von den verschlungenen Wegen der Liebe zwischen Mutter und Sohn. Und davon, dass es für beides niemals zu spät ist.
Info:
„Lara“ (Deutschland 2019), Regie: Jan-Ole Gerster, Drehbuch: Blaž Kutin, Kamera: Frank Griebe, mit Corinna Harfouch, Tom Schilling, Volkmar Kleinert, Rainer Bock u.a., 94 Minuten.
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