Richard David Precht hat es wieder getan. Nach Lenin, der Liebe und gespaltenen Persönlichkeiten widmet sich der Philosoph in seinem Buch „Anna, die Schule und der liebe Gott“ dem deutschen Bildungssystem. Leider ohne großen Erkenntnisgewinn.

Eines ist klar: Schreibt man als recht bekannter Bestseller-Autor ein weiteres Buch, so wird es bei Veröffentlichung meist mehr beachtet, als wenn ein frischer Autor sein erstes Werk veröffentlicht. Will man mit diesem neuen Buch, so wie Richard David Precht erklärtermaßen, auch noch eine „Bildungsrevolution“ auslösen, besteht die Chance, dass ein Ruck durch Deutschland geht. Dass nach dem Erscheinen von Prechts neuem, im weitesten Sinne bildungspolitisch zu nennenden Buch, nicht viel mehr als ein laues Lüftchen geweht hat, ist deshalb durchaus bezeichnend.

Im ersten Teil seines Buchs will Precht, Philosoph, Autor und Dauer-Talkshow-Gast, den Leserinnen und Lesern näherbringen, wieso das katastrophale Bildungssystem in Deutschland eigentlich katastrophal ist. So zählt er nicht enden wollende Faktoren auf, die ab einem gewissen Punkt aber nur noch wie eine endlose Aufzählung der Form halber erscheinen und vollständig gesehen den Eindruck eines Sammelsuriums erwecken.

Precht hat es offenbar zusammengestellt, um möglichst alles, was auch nur ansatzweise bildungspolitisch jemals diskutiert wurde, auch wirklich aufzugreifen. Und da er keine eigenen geistigen Neuschöpfungen bemüht, sondern Ideen von Reformpädagogen, Bildungspolitikern und Soziologen aufgreift, die teils länger schon verstorben sind, wirkt diese Sammlung ziemlich eingestaubt.

Jongliere mit Zahlen

Zudem leistet sich Precht einen unlösbaren Widerspruch, bei dem es verwundert, dass ihm dieser nicht selbst aufgefallen ist – mag das an der möglicherweise geringen Aufmerksamkeit und Zeitspanne liegen, die er diesem Buch gewidmet hat? An mehreren Stellen erklärt Richard David Precht nämlich, wieso zahlreiche bildungspolitische Studien und Untersuchungen, angefangen bei PISA 2001, eigentlich keine sinnvollen Ergebnisse zutage fördern (können).

Um dann allerdings an weiteren zahlreichen Stellen diverse Studien und Untersuchungen zu bemühen, angefangen bei PISA 2001, die seine Kritik an den deutschen Schulsystemen und seine Verbesserungsvorschläge gleichzeitig unterstreichen sollen. Wie Studienergebnisse gleichzeitig dysfunktional sein und trotzdem zur Untermauerung neuer bildungspolitischer Ansätze herhalten können, bleibt Prechts Geheimnis.

Windstärke Vier statt Zehn

Im zweiten Teil von „Anna, die Schule und der liebe Gott“ versucht Richard David Precht zu skizzieren, wie eine Bildungsrevolution aussehen müsste. Doch es bleibt leider nur bei einem mauen Versuch. Der Bestseller-Autor und Philosoph zählt verschiedene, bereits altbekannte Maßnahmen auf, die aus seiner Sicht endlich zum Bildungserfolg führen sollen.

So fordert Precht kleinere Klassen, in denen mehrere Lehrer gemeinsam unterrichten und die Schülerinnen und Schüler gemäß ihrer Entwicklung in themenspezifischen Projekten individuell betreuen, anstatt sie, wie es heute der Fall ist, in Fächer und Klassen aufzuteilen, in denen sie für Klausuren abrufbares Wissen auswendig lernen – und dies anschließend auch schnell wieder vergessen.

Dabei hat Precht eigentlich ja recht. Das Bildungssystem in Deutschland, mit seinen 16 verschiedenen länderspezifischen Schulsystemen ist dringend reform- und verbesserungsbedürftig. Precht hat recht, dass es sowohl aus sozialer, aber ebenso aus wirtschaftlicher Perspektive sinnvoll, ja, sogar nötig ist, die Art des Lernens zu verändern. In seinem Buch schafft er es aber nicht, einen glaubwürdigen und konkreten Weg zu diesem Ziel zu zeichnen.

In der Online-Enzyklopädie Wikipedia heißt es über Windstärke Vier auf der Beaufortskala: „mäßige Brise/Zweige bewegen sich, loses Papier wird vom Boden gehoben“ und über Windstärke 10: „schwerer Sturm/Bäume werden entwurzelt, größere Schäden an Häusern“. Anders gesagt: Da, wo in der bildungspolitischen Debatte mindestens Windstärke Zehn nötig ist, um Veränderungen zu bewirken, arbeitet Precht mit Windstärke Vier. Eine Chance für mehr hat er vertan. Leider.

Richard David Precht: Anna, die Schule und der liebe Gott: Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern, Goldmann Verlag 2013, 19,99 Euro, ISBN: 978-3-442-31261-0

Autor*in
Taner Ünalgan

Taner Ünalgan war bis zum Sommer 2012 Bundeskoordinator der Juso-SchülerInnen

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