„Chamissos Schatten“: In wilden Stürmen zwischen Ost und West
Wenige Teile der Welt können in Zeiten des Internets als entlegen oder schwer erreichbar bezeichnet werden. Jene Gegend, wo sich Amerika und Russland bis auf wenige Kilometer nahe kommen, zählt definitiv dazu: das Beringmeer. Es liegt zwischen der Westküste Alaskas und der Ostküste Sibiriens. Im Norden ist es durch die Beringstraße mit dem Arktischen Ozean verbunden. Im Süden bildet die Inselkette der Aleuten (USA) die Grenze zum Pazifik. Im Westen stößt das Beringmeer an den Nordteil der Halbinsel Kamtschatka. Zu Zeiten des Kalten Krieges standen sich dort zwei politische Blöcke gegenüber.
„Chamissos Schatten“ - Reise in die Vergangenheit
Und doch verbanden die Menschen an dessen östlichen und westlichen Gestaden durch die Jahrhunderte hinweg viele, nicht zuletzt kulturelle Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel die Erfahrung, der Natur unter großen Entbehrungen das Nötige zum Leben abzutrotzen. Wegen seines Reichtums an Bodenschätzen haben es die Strategen in Moskau und Washington bis heute fest im Visier.
Es gibt also viele gute Gründe, sich als Dokumentarfilmer in den hohen Norden aufzumachen. Im Jahr 2014 war die Berliner Filmemacherin Ulrike Ottinger mit einem Forscherschiff drei Monate lang zwischen Alaska und Sibirien für „Chamissos Schatten“ unterwegs. Um Mensch und Natur einzufangen, wählte sie eine besondere Perspektive, nämlich die Reiseberichte berühmter Forscher wie Adalbert von Chamisso, Alexander von Humboldt, Georg Wilhelm Steller, Reinhold und Georg Forster. Unter vergleichsweise halsbrecherischen Bedingungen hatten
diese im 18. und frühen 19. Jahrhundert die arktische Landschaft erkundet, auch getrieben von der Suche nach der Nordwestpassage.
Schwindelerregender Ritt über die Wellen
Wie jene abenteuerlustigen Reisenden führte auch Ottinger ein Logbuch, um ihre Eindrücke festzuhalten. Doch jenes macht nur einen Teil des Kommentars zu den Bildern aus. Immer wieder kommen die Forscher in von Schauspielern gesprochenen Ausschnitten aus ihren Berichten zu Wort. Sinnlich wie präzise legen sie Zeugnis ab, etwa von den chaotischen Verhältnissen an Bord bei schwerer See oder von den Begegnungen mit „Eingeborenen“, Tieren und Pflanzen.
In bisweilen sehr langen Kameraeinstellungen liefert Ottinger dazu die entsprechenden Schauplätze. Dadurch entwickelt sich ein Mit- beziehungsweise Nebeneinander verschiedener Zeitebenen, das verschiedene Wirkungsweisen und -grade entfaltet. Mal lässt man sich als Zuschauer lustvoll dahingleiten, mitunter weisen die Szenen aber auch Längen auf. Gerade die von schwindelerregenden Wellen getragenen Szenen zu Wasser vermitteln ein Gefühl der Unmittelbarkeit und eine fast schon physische Sinnlichkeit, denen man sich gerne hingibt. Bei einigen Landpartien hätte Ottinger das Zeitfenster hingegen deutlich früher schließen können. Zumindest kommt einem dieser Gedanke immer dann, wenn man sich dabei ertappt, seinen hergebrachten Sehgewohnheiten zu folgen.
Bei 709 Minuten Länge wird Zeit relativ
Diese sind hier allerdings fehl am Platze: Zeit ist bei der 709-Minuten-Produktion, die jetzt in vier Teilen ins Kino kommt, relativ. Gerade der ruhige und ausufernde Strom der Bilder macht es möglich, sich nach und nach auf diese Reise zwischen den Zeiten und Welten einzulassen. Und sich auch manch einer Naturschönheit hingeben zu können. Während Ottingers eigener Kommentar mitunter etwas hölzern ausfällt, erzeugen gerade Chamissos präzise Beobachtungen Bilder im Kopf, die es wiederum gilt, mit den starken Eindrücken aus der Gegenwart zusammen zu bringen. Während das Schiff Kamtschatka, die „Insel der Vulkane“ ansteuert, entsteht eine geradezu magische Atmosphäre. Doch Ottinger liefert nicht nur Beschauliches: Immer wieder dokumentiert sie den Verfall der ohnehin spärlichen Infrastruktur, sodass man den Eindruck bekommt, die Menschheit sei auf dem Rückzug.
In ihrer Tiefe erinnern einige dieser Bilder an Gemälde, in denen man sich bei stundenlangem Betrachten verlieren möchte. Und das ist kein Wunder: Ursprünglich hatte Ottinger den Film, der bei der Berlinale lief, für eine Ausstellung über ihre Expedition in der Hauptstadt konzipiert: In einer Jurte flimmerte die 960 Minute lange Fassung der Dokumentation.
„Chamissos Schatten“ lässt Platz für Entdeckungen
Doch der 1942 geborenen Filmemacherin ging es um mehr als eine Bilderflut. Indem sie auch auf spirituelle wie handwerkliche Details aus dem Leben der Gefilmten eingeht, zeigt sich ihr ethnografisches Interesse, das sie bereits in vielen anderen Langzeit-Dokus über ferne Regionen bewiesen hat. Viele von ihnen liefen seit den 1970er-Jahren auf internationalen Festivals. Für „Johanna d' Arc of Mongolia“ erhielt sie 1989 das Filmband in Gold. So lässt auch die visuelle Kraft von „Chamissos Schatten“ Platz für vielerlei Nuancen und Entdeckungen.
Info:
Chamissos Schatten (Deutschland 2016), ein Film von Ulrike Ottinger, mit den Stimmen von Hanns Zischler, Thomas Thieme und Burkhart Klaußner, 709 Minuten. Das erste Kapitel (Alaska und die aleutischen Inseln) läuft jetzt im Kino.
Es folgen:
Kapitel 2 (Teil 1, Tschukotka und die Wrangelinsel) ab dem 14. April
Kapitel 2 (Teil 2, Tschukotka und die Wrangelinsel) ab dem 5. Mai
Kapitel 3 (Kamtschatka und die Beringinsel) ab dem 26. Mai