Bürokratie: ein Herrschaftsinstrument?
„Die Linke hat einen verheerenden Fehler begangen, als sie die Kritik an der Bürokratie den Rechten überlassen hat“, erklärt der Ethnologe Graeber, prominenter Unterstützer von „Occupy Wall Street“. Der US-Amerikaner ist bekannt für seine radikale Kritik an Staat und Kapitalismus, insbesondere mit dem globalen Geld- und Finanzmarktsystem hat er sich auseinandergesetzt. Sein Buch „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ war ein Bestseller.
Allianz zwischen Bürokratie und Finanzmarkt
Sein neues Buch „Bürokratie: Die Utopie der Regeln“ präsentierte er am vergangenen Dienstag auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin. „Wir reden kaum mehr über Bürokratie. Dabei ist sie das Wasser, in dem wir schwimmen“, sagt Graeber, und verweist auf das lästige Ausfüllen von Formularen. Scherzhaft meint er: „Es war eine Herausforderung, ein Buch über Bürokratie zu schreiben, das nicht langweilig ist.“
Graebers grundlegende Kritik an der Bürokratie: Sie schränkt unsere persönliche Freiheit ein. Außerdem seien die Bürokratie und der Finanzmarkt eine Allianz eingegangen: Wenn der einzelne Bürger mit der Finanzwelt in Kontakt trete, sei er sofort mit einer Vielzahl von Formalitäten und Nachweisen konfrontiert.
Anschwellen der Formularflut
In den 50er und 60er Jahren habe das Ausmaß an Regulierungen, Vorgaben und Bescheinigungen rasant zugelegt. In den 80ern hätte sich ein weiterer Trend entwickelt, der bis heute anhält: Medien und Politik hätten angefangen, die Welt aus der Sicht des Finanzmarktes zu sehen. „Plötzlich fingen die Nachrichtensender damit an, ständig ein Banner mit Wirtschaftsnachrichten durch den Bildschirm laufen zu lassen“.
„Die Rechte besteht aus zwei Teilen“, meint Graeber. Zum einen gebe es die libertären Kräfte, die gegen staatliche Regulierungen in der Wirtschaft anträten. Zum anderen seien da die Reaktionären und Faschisten, denen es um Autorität gehe. Das Instrument der Bürokratie würden beide benutzen, sagt der Ethnologe.
Bürokratie bei Polizei, Forschung und Sozialem
Graeber hat sich mit verschiedenen Berufssparten beschäftigt, um dem aus seiner Sicht enormen bürokratischen Aufwand nachzugehen. In den USA müsse die Polizei allein fünf bis zehn Prozent ihrer Zeit für Formalitäten aufwenden. Auch die Kontrolle von Verboten, ob es nun ums Rauchen oder Parken gehe, koste viel Zeit. „Polizisten sind Bürokraten mit Waffen“, scherzt Graeber.
Noch destruktiver wirke sich die Bürokratie auf den Wissenschaftsbetrieb aus. Bis zur Hälfte ihrer Arbeitszeit müssten amerikanische Wissenschaftler für die Klärung der Finanzierung ihrer Projekte aufwenden. In den Anträgen auf Fördergeld müsse der Nutzen der Forschung von Beginn an klar ersichtlich sein. „So wird Kreativität verhindert“, meint Graeber.
Besonders viel bürokratischer Aufwand fällt beim Beantragen von Sozialleistungen an. Hier schlägt Graeber eine simple Lösung vor: das Bedingungslose Grundeinkommen. „Wir könnten uns den ganzen staatlichen Apparat sparen, der dahinter steht“, meint Graeber. Grundsätzlich müsse gefragt werden: „Was kann ohne staatliche Gewalt funktionieren, und was nicht?“.