Kultur

Bürger hört die Signale

von Die Redaktion · 7. Februar 2006

Napoleon hat um 1800 die meiste Arbeit getan, für die Schweiz das Ancien Regime zu überwinden. Seitdem gab es in der Schweiz nicht die Extreme, die in Deutschland seit 1848 alles ruinierten, um es krass auszudrücken: keine Kommunisten wie Marx und Engels einerseits, keine konservative Gegenrevolution eines Reichskanzler Otto von Bismarck andererseits. Hinzu kam, dass die europäischen Mächte die Schweiz in Ruhe ließen, Großbritannien und Russland aber gegen die bürgerliche Revolution der Deutschen aufmarschierten. Seitdem hat das deutsche Bürgertum in zwei Weltkriegen Seele und Substanz, Verdienst und Vermögen verloren. In der Schweiz dagegen scheint heute - fast - alles Bürgertum. In Deutschland ist Bürgertum eine Idee, der Selbstzweifel wegen politischen Versagens und eine Erinnerung an bessere Zeiten. Aber parteifähig ist Bürgertum kaum noch, wiewohl stets eingefordert.

Kein Wunder also, dass aus einem Gespräch dreier Männer- der Deutschen Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler mit dem Schweizer Frank A. Meyer (Schweizer) - über das Bürgertum zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Buch mit dem Titel "Der lange Abschied vom Bürgertum" entstanden ist, das zudem recht deutlich zeigt, wo die Trennlinie zwischen den Auffassungen verläuft.

Joachim Fest schreibt dem Bürger folgende Eigenschaften zu: "Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein, Gesetzestreue und was man geradezu als den Inbegriff bürgerlicher Tugenden bezeichnet - Staatsernst, also die Auffassung, dass es zu den Verrichtungen eines ordentlichen Lebens gehöre, ein guter Staatsbürger zu sein." Ihm zufolge gibt es deshalb keinen Bürger mehr, weil dem "Einzelnen zuviel abverlangt" werde, wenn er all diese Voraussetzungen erfüllen soll.

Frank A. Meyer will dies nicht gelten lassen. Seiner Meinung nach gibt es den Bürger nach wie vor, nur sei jener infolge der "Ökonomisierung der Politik" immer ohnmächtiger geworden.

Wolf Jobst Siedler wiederum mag dem nicht grundsätzlich widersprechen. Seine Skepsis jedoch sitzt tiefer: Vom Bürger köne nur dann die Rede sein, wenn er "einen bestimmten Kanon bürgerlicher Werte" akzeptiere, jene eben, die Fest aufzählt - Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein, Gesetzestreue, Staatsernst. Das Beharren auf diesen Werten sei allerdings schon zu Zeiten des Dritten Reiches weitgehend abhanden gekommen. Wer Siedlers Gedanken weiterspinnt, kommt zu dem Schluss, dass es in der heutigen Gesellschaft das, was er und Fest als das Bürgertum bezeichnen, also kaum mehr geben kann. Zu sehr verliert sich der Wertekanon in Einzelinteressen. Zudem erkenne man den Bürger, so Joachim Fest, daran, dass er sich selbst ständig hinterfrage, und diese Tugend sei heute schließlich kaum noch auffindbar.

War es das Versagen der bürgerlichen Elite Deutschlands, das zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt hat? Fehlte dem deutschen ¢Citoyen¢ die große demokratische Kraft? Und ist die bürgerliche Epoche mit dem Siegeszug der egalitären Gesellschaft in ganz Europa an ihr Ende gekommen? - Im Großen und Ganzen müssen Fest und Siedler diese zentralen Fragen Meyers bejahen. Ein düsteres Ergebnis! Das Gespräch indes bleibt ein intelligentes und kurzweiliges.

Holger Küppers



Frank A. Meyer, Joachim Fest, Wolf Jobst Siedler: "Der lange Abschied vom Bürgertum - Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler im Gespräch mit Frank A. Meyer, Verlag wjs, 2005, 138 Seiten,16 Euro, ISBN 3-937989-10-2

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