Brasilien Im Juni machte der Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2013 mit Protesten Schlagzeilen. Jetzt gilt es, das Land literarisch zu entdecken, auch wenn die Auswahl der Autoren nicht unstrittig ist.
Der 72-jährige João Ubaldo Ribeiro ist misstrauisch. Er ist nach Paulo Coelho wohl der bekannteste und meistverkaufte lebende Schriftsteller Brasiliens. Berühmt wurde Ubaldo Ribeiro 1984 mit „Brasilien, Brasilien“, einer fabelhaften, Jahrhunderte umfassenden Saga um Menschenfresser, Walfänger, Zuckerrohrbarone, Sklaven, umherirrende Seelen und Afrikas Götter. Das Buch ist eine Art Gründungsepos Brasiliens, und selbstverständlich zählt Ubaldo Ribeiro zu den 80 brasilianischen Autoren, die im Oktober zur Buchmesse reisen, auf der das Land Ehrengast ist.
Wir sind zu Besuch in Ubaldo Ribeiros Maisonettewohnung im noblen Stadtteil Leblon, um mit ihm über das aktuelle Brasilien zu sprechen. Dabei soll es auch um die Massendemonstrationen gehen, die im Juni weltweit für Erstaunen sorgten. Wenngleich die Proteste seitdem aus den deutschen Medien verschwunden sind, haben sie nie aufgehört, sind nur geschrumpft, drehen sich stärker um lokale Themen. In Rio will man etwa den korrupten Gouverneur Sérgio Cabral zum Rücktritt bewegen, der nur wenige Straßen von Ubaldo Ribeiro entfernt wohnt. Doch der Schriftsteller bekennt, dass er die Proteste nicht unterstütze. „Ich weiß nicht, wer dahinter steckt“, sagt er.
Brasilien fehlt Debattenkultur
Diese apolitische und misstrauische Haltung wird nicht von allen brasilianischen Autoren geteilt, ist aber charakteristisch für ein Land, in dem es eine Debattenkultur wie in Deutschland nicht gibt. Kaum ein Schriftsteller äußert sich hier einmal kontrovers zu gesellschaftlichen Themen.
Nicht nur das unterscheidet die brasilianischen Autoren von ihren spanischsprachigen Kollegen aus Lateinamerika. Letztere erlebten in den vergangenen Jahrzehnten einen Boom. Angeführt von den Nobelpreisträgern Neruda, Paz, García Márquez und Vargas Llosa eroberten sie den internationalen Buchmarkt, wurden unter dem Begriff „Magischer Realismus“ zur Marke und etablierten ihre Länder auf der literarischen Landkarte. Nur aus Brasilien, diesem „Kontinent im Kontinent“, wie es der große bahianische Erzähler Jorge Amado einmal ausdrückte, hörte man relativ wenig. Ubaldo Ribeiro, der selbst zur aussterbenden Spezies des barocken Romanciers gehört, erklärt die Diskrepanz mit der Sprache. Auf Spanisch erreiche man eine viel größere Leserschaft als auf Portugiesisch.
Nun haben Brasiliens Verlage auf der Frankfurter Buchmesse die Chance, sich einem Massenpublikum zu präsentieren. Knapp sieben Millionen Euro lässt sich das Land den Auftritt kosten. Ein Ziel sei es, Portugiesisch als Weltsprache zu stärken, sagt Renato Lessa, Präsident der Stiftung Brasilianische Nationalbibliothek, die für den Auftritt verantwortlich zeichnet. 270 Bücher sollen erstmals in andere Sprachen übersetzt werden, allein 48 davon ins Deutsche.
Kritik an der Autoren-Auswahl
Der Aufwand lohnt, denn gerade unter den Jüngeren gibt es einige herausragende Autoren, die formal experimentieren, ihre Geschichten in urbanen Umgebungen spielen lassen, teils extreme Gewalt darstellen und insgesamt nüchterner und weniger üppig sind. Zu empfehlen sind etwa Daniel Galera und sein großartig lakonischer Schwimmer-Roman „Flut“ (Suhrkamp) oder Michel Laubs Familienstory „Tagebuch eines Sturzes“ (Klett-Cotta), die von der Verarbeitung eines KZ-Traumas handelt.
Wie die meisten der nach Frankfurt eingeladenen Autoren stammen Galera und Laub aus dem Süden Brasiliens und sind weiß. Die Auswahl der Autoren hat in Brasilien für Unmut gesorgt, weil, so die Kritik, schwarze oder indigene Schriftsteller fehlten und der Norden und Nordosten des Landes unterrepräsentiert seien. Paulo Lins schließt sich dem Argument an. Der 55-Jährige ist Autor des Favela-Romans „Cidade de Deus“, der durch den Film „City of God“ 2002 weltberühmt wurde. Nun hat er mit „Seit der Samba Samba ist“ (Droemer Knaur) einen Nachfolger vorgelegt, in dem er die Anfänge der Musik in den 1920ern nachzeichnet. Im Gespräch sagt Lins: „Ich bin der einzige Schwarze, der nach Frankfurt reist. Wenn das kein Rassismus ist?!“
Doch eine Diskussion um die Liste fand nicht statt. Ubaldo Ribeiro kommentiert die Kritik von Lins auf seine Art. Er brummt: „Rassismus? Quatsch!“
Der vorwärts auf der Frankfurter Buchmesse: Das Programm finden Sie hier: Buchmesse
Philipp Lichterbeck lebt seit Januar 2013 als freier Korrespondent in Rio de Janeiro.