Die Ungarn mussten vor 50 Jahren die Erfahrung machen, dass der Sturz des kommunistischen Regimes und der proklamierte Austritt aus dem Warschauer Pakt brutale sowjetische Gewalt und
Unterdrückung nach sich zieht. Die herrschende Nomenklatur erfuhr 1956, dass sie sich ohne sowjetische Unterstützung kaum eine Woche an der Macht halten kann.
Dies waren Rahmenbedingungen, die für ganz Osteuropa und auch für uns in der DDR galten. Daher unsere Anspannung in der friedlichen Bürgerbewegung von 1989/90. Man konnte sich eben nicht
sicher sein, wie es endet.
In Ungarn hatte die KP-Führung im Herbst 1956 auf die aus der Entstalinisierung hervorgegangene Demokratiebewegung mit der Bitte um Intervention der Roten Armee reagiert. Die Folge war
bewaffneter Widerstand, der derart massiv war, dass Imre Nagy den Forderungen der Straße nachgab. Die sowjetische Armee zog vorübergehend teilweise ab - bis dann alles ein brutales Ende hatte: Die
Besatzer marschierten erneut ein, schlugen den Aufstand blutig nieder, installierten mit Janos Kadar eine ihnen treu ergebene Führung und fällten massenhaft Terrorurteile.
Diese ungarische Geschichte wird heute von György Dalos eindringlich, differenziert und bewegend erzählt: aus der Sicht von einfachen Freiheitskämpfern wie führenden Protagonisten, auch auf
der Basis von Archivmaterial, das erst seit dem Ende des Kommunismus verfügbar ist. Es war ein spontaner Protest gegen Gewalt und Lüge des stalinistischen Regimes. Opportunistische Rückzugsgefechte
ebenso wie echte Lernprozesse kennzeichnen die KP-Führung um den später hingerichteten Nagy. Es gab wohl mehr Getriebene als Helden. Die imperiale Brutalität Moskaus war - eben anders als 33 Jahre
später - jedem Zweifel entzogen.
Wir brauchen mehr derartige Geschichtsbücher zur Korrektur der vermeintlich einfachen Wahrheiten. Es war selbstverständlich keine Konterrevolution, sondern ein Aufstand nationaler und linker
Romantiker, zumeist aus der - damals tatsächlich noch existierenden - Arbeiterklasse. Vereinnahmung wäre ganz falsch: "Die heutige bürgerliche Demokratie und die freie Marktwirtschaft mit ihren
raffinierten Medien- und Machttechniken sowie den vorprogrammierten Mustern von Luxus und Armut entspricht kaum den Idealen der schlecht gekleideten, nichtbürgerlichen Demonstranten und
Aufständischen vom Herbst 1956." Es war aber auch keine heroische nationale Befreiungsbewegung. Dalos schildert schonungslos politische Kopflosigkeit und Chaos, militärischen Dilettantismus,
sinnloses Blutvergießen, sowie Morde und Lynchjustiz auch von Seiten der Aufständischen.
Tragik ist vielleicht das Kernmotiv dieser, wie auch anderer ungarischer Geschichten. Doch versinkt dieses Land nicht in Schwermut, denn traurige Ironie, die augenzwinkernde Pointe macht den
feinen Unterschied aus. Gerade hierin ist der Schriftsteller Dalos ein Meister seines Fachs, für die "Zeit danach" formuliert er Sätze wie den folgenden: "Das Verbot von größeren
Menschenansammlungen war beispielsweise nicht umsetzbar, solange die größte potenzielle Zusammenrottung jedes sozialistischen Systems - die Schlangen vor den Lebensmittelläden - nicht aufgelöst
werden konnte."
György Dalos: 1956.
Der Aufstand in Ungarn.
Verlag C.H. Beck, München 2006,
247 Seiten, 19,40 Euro,
ISBN 3-406-54973-X
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