„Body Of Truth“: Was vier Künstlerinnen aus ihrem Schmerz machen
Extreme Erfahrungen durchlebt und verarbeitet zu haben, gilt als eine von vielen Voraussetzungen, um große Kunst zu erschaffen. Häufig ist sie Teil jener Verarbeitung und offenbart, in welchem gesellschaftlichen und politischen Kontext der Schmerz entstand.
Marina Abramović liefert hierfür immer wieder radikale Beispiele. Seit Jahrzehnten tourt die 74-Jährige als gefeierte Performancekünstlerin durch die Welt. Einmal ritzte sie sich einen Stern in die Haut und präsentierte ihren geschundenen nackten Körper. Dabei ging es ihr darum, die Zwänge nach außen zu kehren, die sie als Tochter prominenter Partisan*innen und Kommunist*innen im früheren Jugoslawien erfuhr. Wieder einmal diente ihr der eigene Körper als Werkzeug, um das Publikum im Hinblick auf vergangene und gegenwärtige Schrecken wachzurütteln.
Hula-Hoop-Reifen aus Stacheldraht
Blutig geht es auch in dem Video „Barb Hula“ zu: Darin schwingt die Bildhauerin und Installationskünstlerin Sigalit Landau einen Hula-Hoop-Reifen aus Stacheldraht um die entblößten Hüften: Jenes Material sei in ihrer Heimat Israel allgegenwärtig und symbolisiere neben einer permanenten Bedrohung die von Konflikten aufgeladene Nachbarschaft mit den Palästinenser*innen, sagt die 51-jährige Tochter von Holocaust-Überlebenden in „Body of Truth“.
Neben Abramović und Landau beleuchtet Regisseurin Evelyn Schels, die 2013 mit einem Dokumentarfilm über Deutschlands Künstler-Weltstar Georg Baselitz auf sich aufmerksam gemacht hat, zwei weitere Frauen, die in ihrer Kunst persönliche und kollektive Extremsituationen reflektieren. Immer wieder beschäftigt sich die Fotografin und Filmemacherin Shirin Neshat mit ihrem Geburtsland Iran. 1979, im Jahr der Islamischen Revolution, ging sie zum Studium in die USA. Zwölf Jahre später kehrte sie zurück und schaute sich um: Zur jahrelangen Trennung von der Heimat kam nun die nicht minder schmerzhafte Erfahrung, dass es diese Heimat, die sie kannte, nicht mehr gibt.
Seitdem steht der Iran im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Gezeigt werden Bilder aus der Reihe „Women of Allah“, die die heute 63-Jährige in den 90er-Jahren ausgestellt hat. Um zu demonstrieren, wie mit Ideologie überfrachtet und widersprüchlich das Bild von Weiblichkeit in der Islamischen Republik ist, schlüpften Neshat und andere Frauen in einen Schleier. Ergänzt wurde das Ganze durch wie Kalligrafien stilisierte Zitate einer zeitgenössischen iranischen Lyrikerin. Frei nach dem Motto: Mit dem Schönen überwindet man die Unterdrückung.
Lehren aus der Vergangenheit
Die 1944 in Prag geborene Fotokünstlerin Katharina Sieverding wurde unter anderem durch die Vertreibung nach 1945 und die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen im Westdeutschland der späten 60er-Jahre geprägt. Ihre Arbeiten drehen sich darum, Lehren aus der Vergangenheit für die Gegenwart zu ziehen. Davon zeugen die Zyklen „Schlachtfeld Deutschland“ und „Deutschland wird deutscher“. Nicht nur, aber gerade in verfremdeten Selbstporträts widmete sie sich immer wieder weiblicher Identität und Identitäten.
Vier Frauen aus vier Gesellschaften und verschiedenen Generationen: Schels arbeitet subtil heraus, unter welchen Bedingungen und vor welchem Erfahrungshorizont Kunst entsteht, deren therapeutischer Ansatz oft über die jeweilige Akteurin hinausgeht, weil der individuelle Schmerz nicht selten auch ein kollektiver ist – so zumindest lassen sich viele der gezeigten Arbeiten deuten. Die Regisseurin schaut den Künstlerinnen im Atelier über die Schulter, liefert pointierte Interviewsequenzen, zeigt Aufnahmen vergangener Ausstellungen und Performances und fügt Archivbilder vom politischen Geschehen hinzu. Mitunter zerfließen die Grenzen zwischen Kunst und Realität.
Alle vier zeigen und nutzen ihre Schmerzen
Trotz der so unterschiedlichen schöpferischen Ansätze ergeben sich immer wieder Verknüpfungspunkte zwischen den Protagonistinnen. Alle vier zeigen und nutzen ihre Schmerzen und Verwundbarkeit, um daraus etwas Neues und Starkes entstehen zu lassen. Schels formuliert es im Presseheft so: „Wir alle haben unsere Verletzungen, große und kleine. Die Künstlerinnen zeigen uns ihre Verwundbarkeit in ihren Werken. Sie finden dafür eine poetische und präzise Sprache, die jeder versteht – und damit wissen wir, wir sind nicht allein.“
„Der Geist kann lügen, der Körper nicht“: Diese im Film formulierte künstlerische Wahrheit fast Schels als inhaltliche Klammer sehr weit und löst sie beim Blick auf Sieverding nur bedingt ein. Mindestens aber liefert „Body of Truth“ berührende und erhellende Einblicke in vier Künstlerinnenbiografien, die jede für sich einen eigenen Film wert wären.
Info: „Body of Truth (Deutschland/Schweiz 2019), ein Film von Evelyn Schels, mit Marina Abramović, Sigalit Landau, Shirin Neshat und Katharina Sieverding, 96 Minuten, OmU. Im Kino