Biotop auf Abruf
Mitunter liegen die weltumspannenden Wesensmerkmale dieser Zeit vor der eigenen Haustür. Zum Beispiel die zunehmende Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes in Großstädten – oder zumindest deren Vorzeichen. Zum Beispiel in dem im Wandel begriffenen Kölner Bezirk Ehrenfeld. Eines Tages las die Filmemacherin Anna Ditges in der Zeitung, dass auf einem früheren Industriegelände um die Ecke eine Shoppingmall nebst Wohnungen entstehen soll. Sie schnappte sich ihre Kamera und besuchte die erste Informationsveranstaltung. Daraus wurde eine Langzeitdokumentation. Vier Jahre lang beobachtete Ditges den mühsamen Interessenausgleich im Zuge der Bürgerbeteiligung bei Bauvorhaben. Sie zeigt, dass das oft zitierte Klischee von allmächtigen Investoren und ohnmächtigen, wenngleich wütenden Anwohnern nur bedingt zutrifft.
Das Gelände der früheren „Helios AG für elektrisches Licht und Telegraphenanlagenbau“ ist eines der Refugien, wie wir sie aus vielen ehemaligen Arbeitervierteln kennen. Nach dem Aus für die Produktion suchten und fanden kreative und kleinteilige Nachnutzungen dort ihre Nische. Während Handwerk, Kunst und Subkultur rund um den markanten Helios-Leuchtturm erblühten, wurde der der Rest sich selbst überlassen. Wenn die Kamera vom Kölner Fernsehturm vor morgendlicher Hochhauskulisse runter auf das Herz von Ehrenfeld schwenkt, sehen wir, wie sie aus ihren Löchern kommen – all die kleinen Händler, Handwerker und Künstler. Unvermittelt stellt sich das Gefühl ein, ein Biotop zu betreten, das höchst sympathisch, aber auch aus der Zeit gefallen ist.
Frieden auf der Brache
Über Jahrzehnte währte der Frieden auf der Teilbrache, die mit dem Club „Underground“ immerhin eine der bekanntesten alternativ angehauchten Konzertstätten Deutschlands hervorgebracht hat. Bis ein Investor das knapp vier Hektar große Areal in bester zentraler Lage kaufte und 2010 ein Konzept vorlegte, das alles andere als kleinteilig war und all das, was das Quartier prägt, zu zerstören drohte. Prompt bildete sich eine Bürgerinitiative. „Es ist, als würde man Ehrenfeld ein Stück seiner Seele herausreißen“, bringt es Rocksänger Peter Brings am Rande eines Solidaritätskonzerts auf den Punkt. Mit anderen Worten: Nicht nur in Berlin sind kreative Freiräume als Standortfaktor und Markenkern bedroht.
Wem gehört dieses Stück der Stadt? Oder, anders gesagt, welches Stadtleben-Konzept soll dort künftig gelten? Ditges nimmt sich viel Zeit, um die Vorstellungen von Investoren, Nutzern, Anwohnern und Behördenvertreten auszubreiten. Mal vor großem Publikum, mal in Einzelinterviews. In letzteren gelingt es ihr, die so konträren individuellen Sichtweisen anschaulich und logisch zu transportieren. Am Ende möchte man allen recht geben. Zum Beispiel Hans-Werner Möllmann, dem Sprecher der Bürgerinitiative. Ihn nervt es, dass ihm immer wieder Gebäude vor die Nase gesetzt werden, ohne gefragt zu werden. Und wer möchte dem Bauherren Paul Bauwens-Adenauer widersprechen, der betont, dass sich privates Bauen rechnen muss? Erhellende Pointen setzt immer wieder die Architektin Almut Skriver. Sie dringt von Anfang an darauf, nicht nur zu protestieren, sondern „etwas anderes und besseres“ für die Bebauung vorzuschlagen. Damit brechen sich allerdings ungeahnte Dynamiken unter den Anwohnern Bahn. Die haben wiederum zur Folge, dass sich nun einige Bürger von ihresgleichen nicht mehr mitgenommen fühlen. Erst recht, als der SPD-Bezirksbürgermeister Josef Wirges – zunächst gibt er den hemdsärmelig-jovialen Moderator – gemeinsam mit Vertretern des Stadtplanungsamtes eine Nutzung für das Helios-Gelände ins Spiel bringt, die sämtliche Planungen über den Haufen wirft.
Idealismus und Ironie
„In den letzten Jahren ist der Wille der Menschen, gehört zu werden und sich einzumischen, deutlich spürbar geworden“, sagt Ditges. Diese fast schon idealistische Haltung zieht sich durch den gesamten Film, ohne jedoch die kritischen Anwohner pauschal zu adeln. Subtil wird deren Engagement für Geschaffenes und für Identität stiftende Sphären gewürdigt. Was durchaus erstaunlich ist: Schließlich zählt Ditges als ortsansässige Künstlerin, die parallel zur Arbeit an diesem Film ein Jugendmedienprojekt über die Vielfalt des Viertels leitete, gewissermaßen selbst zu den Akteuren. Dennoch wahrt sie eine, mitunter von leiser Ironie getragene, Distanz. Mit dieser Behutsamkeit ergibt sich ein Bild von den Menschen hinter den Positionen, selbst wenn manch eine Situation einen schmunzeln lässt: Klischees sind eben umso lustiger, weil „authentischer“, wenn sie eher beiläufig festgehalten werden. Unterhaltsamer und erkenntnisreicher kann eine Dokumentation über einen demokratischen Prozess, der allen Beteiligten abverlangt, zu lernen, Kompromisse zu schließen, kaum sein.
Info: „Wem gehört die Stadt – Bürger in Bewegung“ (D 2014), ein Film von Anna Ditges, 87 Minuten. Ab sofort im Kino