Kultur

Biografische Wendepunkte

von Die Redaktion · 4. Januar 2006

Gefährliche Situationen oder gar Katastrophen stellen die Menschen vor eine harte Wahl. "Manche fallen um und stehen nie wieder auf. Manche stehen danach aufrecht wie noch nie, obwohl sie gebrochen schienen". Der Tod naher Verwandter, das Ende einer Ehe, beruflicher und sozialer Absturz drängen die Persönlichkeit oft in völlig neue Bahnen.



Das Bewusstsein über die Tiefe einer Schicksalswende entstehe meist später. Erst am "Tag da nach" beginne das Denken, sobald sich "Rache und Versöhnung, Liebe und Trauer, Wehmut und Wut", die Erwartung neuer Lebenshorizonte manifestieren.

Der Autor sprach mit Politikern, denen es nicht leicht fiel, auf Macht zu verzichten. Wolfgang Novak, von 1999 bis 2002 Planungschef im Kanzleramt, sagte über seine Entlassung: "Man ist dann eine Weile sehr unleidlich, was völlig idiotisch ist", denn ein Amtsverlust sei "auch ein Glücksfall, man kann endlich leben". Derartige Äußerungen, glaubt Jürgs, kaschieren oft die wahre Sichtweise, denn kaum ein Politiker gebe zu, dass ihn Machtlosigkeit depressiv stimme.

Rudolf Scharping, Ex-Verteidigungsminister, berichtet, dass er ohne aktive Politik leben könne, obwohl manche Wunde noch brenne. Da er Lafontaine gering schätze und Sachzwänge über den persönlichen Egoismus stelle, schwand die ursprüngliche "Lust auf Rache". Heute lehrt Scharping an einer amerikanischen Universität.

Vielfach heilen Traumata nie völlig; man lerne nur, nicht an ihnen zu scheitern. Die Zeit beseitige keineswegs alle Narben. So schmerzt Egon Bahr bis heute der Sturz Willy Brandts, trotzdem er damals Brandt zum Rücktritt geraten hatte, um zu verhindern, dass man den Kanzler "wie eine waidwunde Sau durchs Dorf jage".

Andere bewahre das "Pflichtbewusstsein" davor, zu verzweifeln. Rainer Barzel und die Talkmasterin Alida Gundlach verdrängten eigene oder die Krankheiten ihrer Lebenspartner, indem sie beruflich weiter arbeiteten.

Wolfgang Berghofer, früherer Oberbürgermeister von Dresden, erhielt 1992 eine Bewährungsstrafe; in der DDR-Ära hatte er Wahlen manipuliert. Berghofer konnte diese Fälschun¬gen nie verwinden und erkannte, dass er sein ganzes Leben unechten "Göttern" geopfert habe. Die billigen Entschuldigungen der PDS, die nur der Stasi und Schalck-Golodkowski jegliche Schuld gebe, akzeptiere er nicht.

Ähnliches erlebte der Schriftsteller Erich Loest. Der 8. Mai 1945 und der 17. Juni 1953 befreiten ihn von der jeweiligen Diktatur. Katrin Krabbe überwand das vorzeitige Ende ihrer Sportkarriere dadurch, dass sie sich klar machte, wie viel schwerer der Verlust eines Kindes oder soziale Deklassierung die Seele zerstöre.

Jürgs interessieren nur Personen der "High Society", die meistens weich fallen. Auch schlägt er zu selten den Bogen vom Einzelnen zum All¬gemeinen. Welche Schicksale sind zeittypisch und was trägt vornehmlich individuelle Merkmale? Dennoch reflektiert der Autor wichtige Fragen; irgendwann hat sie jeder zu beantworten.

Rolf Helfert

Michael Jürgs, Der Tag danach. Vom Verlust der Macht und dem Ende einer Liebe, vom schnellen Tod und von einem neuen Leben. Deutsche Biografien, C. Bertelsmann, München 2005, 366 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 3-570-00829-0.

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