Deutschland hat das viertteuerste Gesundheitssystem im Rahmen aller OECD-Staaten. Trotzdem liegt es nur an 25. Position im WHO-Qualitätsvergleich der gesundheitlichen Versorgung der
Bevölkerung. Wie ist das möglich? Der Mediziner, Epidemiologe und Gesundheitsökonom Prof. Karl Lauterbach listet auf, wo die Schwachpunkte des deutschen Gesundheitssystems liegen. Und er zeigt,
wie damit umzugehen ist.
Ursachen der Negativbilanz
Einen Grund hat er schon in seinem vorhergehenden Buch "Der Zweiklassenstaat. Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren" benannt. Auch in seinem neuen Buch weist er an verschiedenen
Fällen nach, wie die Zweiklassenmedizin - so charakterisiert er die Trennung der Patienten in Kassen- (90 Prozent) und Privatpatienten (10 Prozent) - eine schlechtere und teurere Versorgung der
Patienten nach sich zieht. Da geht es nicht um "Hotelversorgung" im Krankenhaus und auch nicht ausschließlich um längere Wartezeiten bei Spezialisten. Es geht um Existenzielles. Darum, dass
Kassenpatienten mitunter die Behandlung durch Spezialisten versagt bleibt. Darum, dass sie sich nicht ambulant von Krankenhausärzten versorgen lassen dürften, sondern nur bei stationärer Aufnahme
im Krankenhaus. Auch darum, dass Privatversicherte als die lukrativeren Patienten gelten, bei denen sich aufwändige Behandlungen lohnen, was auch zu einem überdosierten Mehr verleiten könne und
im Übrigen zur Folge habe, dass Spezialisten mitunter einen weniger komplizierten, aber lukrativen Fall eher und häufiger behandelten, was auf Dauer der Spezialisierung nicht gut täte.
Bessere Leistung für besseres Geld?
Kassenpatienten erbrächten solidarische Leistungen für mitversicherte Kinder, Arbeitslose, Migranten sowie Personen ohne eigenes Einkommen. Sie zahlten mitunter mehr ein als privat
Versicherte, seien aber in Hinsicht auf Prävention und Versorgung bei schweren Krankheiten schlechter versorgt.
Die einen unterversorgt, die anderen überversorgt: Ins Geld gehe beides, erläutert der Gesundheitsökonom. Nicht ausreichende Versorgung und Vorbeugung könne Folgekrankheiten nach sich
ziehen. Und auch nicht notwendige teure Behandlungen könnten Nebenwirkungen haben, die besser vermieden würden. Ineffizienz liege in beidem. Vor allem aber weist der Mediziner auf die Probleme
für die zu behandelnden Kranken hin.
Alternative zum Wechsel zu einer privaten Krankenkasse
Nach seinem vorigen Buch sei ihm von Vertretern privaten Krankenkassen bescheinigt worden, dass dies eine gute Werbung für sie gewesen sei, erzählt der Autor.
Dabei schlägt er Kassenpatienten den Wechsel gar nicht vor. Was er empfiehlt, ist eine über die gesetzliche Krankenkasse zu habende Zusatzversicherung, die im Falle des Falles eine
Chefarzt-Behandlung sichert.
Das System der Krankenkassen, so Lauterbach, könne sich so ohnehin nicht mehr lange halten. Auch auf die privaten kämen wegen der demographischen Entwicklung und insgesamt geringen
Neu-Eintritten gravierende Probleme zu. Ohnehin gäbe es viel zu viele Kassen. Im Übrigen könnten auch gegenwärtig die gesetzlichen Krankenkassen auf Basis der bestehenden Rechtslage mehr tun, um
für ihre Versicherten wo notwendig Termine bei Spezialisten zu gewährleisten.
Keine echte Konkurrenz zwischen den Kassen
Ein wirklicher Wettbewerb um bessere Leistungen sei beim gegenwärtigen System kaum gegeben. Es überwiege eher das Konkurrieren um die jungen, gesunden Mitglieder oder um bestimmte chronisch
Kranke, deren Versorgung durch die dennoch sehr sinnvollen staatlich finanzierten Chronikerprogramme finanziell günstig sein könne. (Problematisch sei hier allerdings die Fixierung auf eine
ausgewählte Zahl von Krankheitsbildern, so Lauterbach.)
Zu fragen sei auch, wie eine mitgliederschwache Krankenkasse mit nur wenigen Mitgliedern im jeweiligen Gebiet tatsächlich für ihre Versicherten eintreten soll. Die Potenzen seien hier eher
gering.
Wie wichtig ist es, alle Krankenhäuser zu erhalten?
Der Autor bleibt nicht bei der Kritik am System der Kassen stehen. Er weist auch auf die Problematik der Beeinflussung von Ärzten durch die Pharmaindustrie hin (Vertretergespräche, Boni,
Weiterbildungen). Er fordert die Kennzeichnung von umstrittenen Medikamenten. Diskussionen, die stets das Teure als das Bessere verlangten, seien mitunter nur Scheingefechte, die den Ärzten und
Patienten suggerierten, dass es um bestmögliche Versorgung ginge.
Ebenso stehe es auch um die Forderung nach Erhalt aller Krankenhausbetten. In mittelmäßigen Krankenhäusern würden Operationen durchgeführt, für die diese nicht prädestiniert seien, nur um
ihren Erhalt zu sichern. Patienten seien gut beraten, sich vor einer OP nach der Häufigkeit im jeweiligen Krankenhaus durchgeführter Operationen zu erkundigten. Ebenso wichtig seien
Gesundheitserziehung in den Schulen, Ernährungsberatung und Ausrichtung auf ein gesundes Leben auch durch Sport. Übergewicht und mangelnde Bewegung führten ansonsten zu einer Epidemie. Die
übrigens beträfe ärmere Schichten der Bevölkerung schon jetzt.
Ratio versus Angst
Als Rahmen für die Organisation eines besseren Gesundheitssystems sieht der Autor die Bürgerversicherung an. Sein Buch mit fundierten Ratschlägen kann in vielen Punkten Handlungskompendium
für die Gesellschaft wie für den Einzelnen sein. Es schließt an die moderne evidenzbasierte Medizin an, die den Nutzen von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen bei bestimmten
Krankheitsbildern durch den Gebrauch der besten unabhängigen internationalen Vergleichsstudien zu quantifizieren erlaubt.
Ängste von Patienten gegenüber dem Verlangen nach Abbau von Krankenhausbetten etwa wird der Autor trotzdem nicht völlig ausräumen können.
Da ist dann längere Pflege zu Hause zu sichern. Mitunter kann der weitere Weg zum Krankenhaus Gefährdungen in sich bergen, frei nach dem Sprichwort "Ein halber Arzt in der Nähe, ist besser
als ein Arzt in der Ferne".
Weitere Diskussion ist vonnöten.
Dorle Gelbhaar
Karl Lauterbach "Gesund im kranken System. Ein Wegweiser", Rowohlt Berlin 2009, 225 Seiten, 16,90 Euro, ISBN 978-3-87134-625-5
ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.