Bürgerschaftliches Engagement ist entscheidend für Integration und gesellschaftliche Teilhabe. Aber wo findet es in Berlin statt und unter welchen Bedingungen? Eine Veranstaltung der Ebert-Stiftung suchte Antworten.
Berlin, Spandau. Neun Uhr morgens. Vier Jugendliche stehen an einem Polizeiauto. Zwei von ihnen sind Deutsche. Die anderen beiden haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Ihre Wurzeln liegen in der Türkei und im Libanon.
„Hier gibt es Stress“, könnte man denken. Das morgendliche Zusammentreffen der Vier mit der Polizei beruht aber nicht auf Gewalt. Für die Gesetzeshüter gibt es hier nichts zu schlichten. Ganz im Gegenteil. Sie treffen sich für eine gewaltfreie, von Toleranz und Anerkennung geprägte Gesellschaft. „Stark ohne Gewalt“ heißt das Projekt, für das sich die vier Jugendlichen und viele andere einsetzen.
Warum?
Die Jugendlichen gehen zusammen mit den Polizeibeamten auf Streife. Sie begegnen einander und lernen sich kennen. Sie gehen Hand in Hand für ein friedliches und respektvolles Miteinander und das freiwillig. „Stark ohne Gewalt“ ist ein Beispiel für bürgerschaftliches Engagement. Eines, das zeigt, dass es wichtig ist, sich für andere einzusetzen –besonders in einer Einwanderungsstadt wie Berlin.
„Bürgerschaftliches Engagement und Integration sind Geschwister. Sie helfen und unterstützen sich gegenseitig“, erklärt Raed Saleh, Fraktionsvorsitzender der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus und Mitbegründer von „Stark ohne Gewalt“. „Bürgerschaftliches Engagement hat eine zentrale Bedeutung für gesellschaftliche Teilhabe.“ Die Diplom-Soziologin Susanne Huth sieht das genauso. Sie beobachtet und analysiert die Strukturen und Bedingungen für Bürgerschaftliches Engagement. Ihr Schwerpunkt liegt auf Menschen mit einem so genannten Migrationshintergrund.
Ziel sei es, die Trennung zwischen „wir und denen aufzuheben, denn wir sind eine Stadtgesellschaft“, betont Huth. Dafür sei es aber zunächst wichtig, das freiwillige und bürgerschaftliche Engagement von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund getrennt voneinander zu betrachten, erklärt sie.
Die Ergebnisse einer Repräsentativumfrage in Deutschland ergeben, dass 64 Prozent der Menschen mit türkischer Herkunft Mitglieder in Vereinen, Verbänden oder Initiativen sind. Dies entspricht fast dem Bundesdurchschnitt, der bei 70 Prozent liegt. Wenn es aber um freiwilliges Engagement geht, sehen die Zahlen anders aus. Nur zehn Prozent der Menschen mit türkischem Migrationshintergrund engagieren sich ehrenamtlich. Im Bundesdurchschnitt ist es mehr als ein Drittel.
Außerdem zeigen Studien, dass das bürgerschaftliche Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund eher informell und in sogenannten Migrantenorganisationen sattfindet. In klassischen Engagementbereichen sind sie deutlich unterrepräsentiert: Bei der freiwilligen Feuerwehr liegt der Anteil bei den Erwachsenen mit Migrationshintergrund gerademal bei acht Prozent. Bei den Jungen mit Migrationshintergrund beträgt er zwar mehr als 20 Prozent, dennoch ist die multikulturelle Vielfallt, der Einwanderungsstadt Berlin, an diesen Zahlen nicht abzulesen.
Auch Bereiche, wie das Rettungswesen oder der Natur- und Umweltschutz sind davon betroffen. Es sei also wichtig, kulturelle Vielfalt in den verschiedenen Organisationen zu etablieren und die Zusammenarbeit zu fördern – für ein gesellschaftliches Miteinander, erklärt die Soziologin. Aus diesem Grund diskutieren Experten auf der Veranstaltung „Bürgerschaftliches Engagement in der Einwanderungsstadt Berlin“ die Strukturen, Mechanismen und Bedingungen für das Gelingen von bürgerschaftlichem Engagement.
Sprache lernen durch engagieren
Bürgerschaftliches Engagement hilft, verschiedene Kenntnisse und Fähigkeiten zu lernen und zu vertiefen. Da sind sich die Diskussionsteilnehmer einig. Es erleichtert zudem, sich mit dem nötigen Alltagswissen vertraut zu machen: von kulturellen Konventionen und Regeln bis hin zur Sprache. Und nicht nur das. Die Diplom-Soziologin Susanne Huth erklärt: Bürgerschaftliches Engagement helfe auch im Berufsleben sehr. Sei es wegen des Einstiegs ins kulturelle Leben, also dem Lernen der Strukturen und der Sprache, oder weil bürgerschaftliches Engagement beim potentiellen Arbeitgeber gern gesehen werde.
Und ganz nebenbei finde eine soziale Integration statt, darin sind sich Raed Saleh und Susanne Huth ebenfalls einig. Man begegne sich, man lerne sich kennen und man akzeptiere und respektiere sich. „Man engagiert sich dort, wo man sich zuhause fühlt“, betont Saleh. Die Kooperation zwischen traditionellen Engagementstrukturen und Migrationsorganisationen müsse deshalb gefördert werden. Dafür müssten die Migrantenorganisationen unterstützt werden, denn meistens seien diese finanziell sehr schlecht ausgestattet. Viele der Organisationen hätten nicht einmal Räume, was ihre Arbeit stark erschwere. Wichtig sei auch, dass sich traditionelle Engagementstrukturen, wie beispielsweise die Caritas oder AWO, interkulturell öffneten. Oftmals würden solche Organisationen als „geschlossene Gesellschaft“ wahrgenommen. Die Menschen würden denken, dass sie nicht gebraucht würden oder fühlten sich nicht willkommen, erklärt Susanne Huth. Mit Kampagnen wie „Berlin braucht dich“ soll sich das in Zukunft ändern. Mit der Kampagne werden seit 2006 Jugendliche, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer und Unternehmen zusammengebracht. Ziel ist es, den Anteil der Jugendlichern mit Migrationshintergrund in allen Ausbildungsbereichen zu erhöhen, in denen die Politik als Arbeitgeber Verantwortung trägt.
Coco-Christin Hanika absolviert im Frühjahr 2013 ein Praktikum beim vorwärts.