Sanft ziehen sich die Hügel durch Niederösterreich. Doch im April 1945 ist von dieser Idylle keine Spur: Das Drama „Vielleicht in einem anderen Leben“ führt mitten hinein in den Wahnsinn der untergehenden Nazi-Herrschaft.
In den Todesmärschen der KZ-Häftlinge gegen Kriegsende äußert sich das ganze Ausmaß der kalkulierten Barbarei: Schätzungen zufolge treiben SS und Volkssturm rund 700 000 Menschen ins Innere des Reiches. Zwischen 200 000 und 250 000 werden ermordet oder sterben an Hunger und Entkräftung.
Dieses Grauen erreichte auch die niederösterreichische Provinz. Dort beteiligte sich die Landbevölkerung an der Gewaltorgie gegen die Wehrlosen. Bis heute wurden die Todesmärsche, nicht nur in der Alpenrepublik, nur ansatzweise aufgearbeitet. Die Dramatiker Peter Turrini und Silke Hassler taten es in dem Theaterstück „Jedem das Seine“. Es ist die Grundlage für Elisabeth Scharangs Film über Fanatismus und Widerstand. Dessen Einblicke sind angesichts vieler offener Fragen umso beeindruckender.
Im Frühjahr 1945 steht die Rote Armee kurz vor der österreichischen Grenze. 20 ungarische Juden schleppen sich in Richtung KZ Mauthausen. Da sich die Befehlsstruktur ihrer Bewacher langsam auflöst, stranden sie, von Kindern mit „Heil Hitler“ begrüßt und schließlich sich selbst überlassen, im Heustadl eines Dorfes. Und warten. Sollen sie dort still ausharren und hoffen, dass sie vergessen werden? Oder ist die Flucht der einzige Ausweg? Trotz der quälenden Ungewissheit richten sich die ausgemergelten Gestalten zwischen den Strohballen ein.
Die Volksseele kocht
Im Dorf sind die Juden zwar nicht zu sehen, aber stets präsent. Rasch beginnt in der Kneipe die Volksseele gegen die eingesperrten „Volksschädlinge“ zu kochen. Doch es gibt Ausnahmen: Die Magd Poldi, wahnhaft eine Nachricht ihres Verlobten von der Front erwartend, eilt zum Heustadl, in der wirren Hoffnung, dort eine erlösende Mitteilung zu bekommen. Dort wird sie des ganzen Elends der vermeintlichen Untermenschen gewahr. Gemeinsam mit ihrer Bäuerin Traudl Fasching, der der Stall gehört, beschließt sie zu helfen. Was ungeahnte Folgen hat: Angestiftet vom überdrehten Opernsänger Lou Gandolf, studieren die dem Todesmarsch vorerst Entronnenen zum Dank die Operette „Wiener Blut“ ein: Straussens Operette wird zur Hymne der Hoffnung.
An diesem Punkt nimmt das Drama eine groteske Wendung, doch die Todesgefahr bleibt allgegenwärtig. In diese begeben sich auch Poldi und Traudl zunehmend hinein. Deren Gatte Stefan, ein eher verbitterter als fanatischer Volkssturm-Aktivist, wirft den Frauen Hochverrat vor, weil sie den „Saujuden“ Essen bringen. „Des ist koa Hochverrat, des is a Suppn“, kontert Traudl. Am Ende mischt auch Stefan bei der Operetten-Truppe mit, indem er ihr das Familien-Klavier überlässt und selbst zur Zieharmonika greift – nachdem der Sohn der Faschings im Krieg umgekommen war, hatte er das Instrument nicht mehr angerührt.
Zurück im Leben
Traudl und Stefan, ehedem von Trauer und ehelicher Entfremdung ausgezehrt, finden ins Leben zurück. Doch sie haben die Rechnung ohne ihre vom NSDAP-Ortsgruppenleiter aufgestachelten Nachbarn gemacht. Plötzlich fallen Schüsse auf den Stadl: Es ist ein Vorgeschmack darauf, was der Mob vermag. Jene, die sich nicht vom Kunstsinn ihres Impressarios von der Budapester Opernbühne anstecken lassen, ahnen es ohnehin.
Dass sich jüdische Häftlinge und niederösterreichische Bauern im Zweiten Weltkrieg aufmachen, eine Schicksalsgemeinschaft zu bilden, mag man, gerade wegen der radikalisierten Mehrheit der Dorfbewohner, für reichlich konstruiert halten. Andererseits wird die kleine Stadl-Welt im ständigen Wechselspiel mit dem bösartigen Drumherum in Szene gesetzt: Das vermeidet jegliche Naivität oder eine verkitschte Opfer-Retter-Schiene – wenn man von der Geige absieht, die immer an der richtigen Stelle eines Dialogs traurig schluchzt.
Und doch bleibt Raum für große Gefühle: Auf wundersame Weise setzen die Häftlinge in ihren Verbündeten eine Wandlung in Gang: Traudl und Stefan können sich wieder ein erfülltes Dasein jenseits der Verletzungen an Seele und Körper erträumen, die der Krieg über sie brachte. Das stiftet Nähe zu den ungarischen Juden, die, unter völlig anderen Vorzeichen, ohnehin ihren Überlebensgeist aus dem Traum von einer besseren Zukunft schöpfen. Ihr Schicksal wird sich am Ende gemeinsam erfüllen.
Innere Kämpfe
Zweifellos prägen sich Ursula Strauss (Traudl) und Johannes Krisch (Stefan) als Einzeldarsteller am meisten ein. Strauss' makelloser Teint und ihr kerzengerader Gang mögen für eine Bäuerin jener Zeit wenig authentisch sein. Doch das, was im Innern dieser äußerlich eingefrorenen Frau miteinander ringt – die übermächtige Trauer um das verlorene Familienglück und die langsam erwachende Lust am Leben – hat man selten so bedrückend erlebt. Für dieses gleichsam wuchtige wie sanfte Spiel bekam die 38-Jährige den Österreichischen Filmpreis.
Doch unterm Strich beeindruckt die Ensemble-Leistung: Etwa, wenn sich die Stallbewohner wie besessen auf ein Stück Brot stürzen. Die Bestie Mensch, auch das zeigt dieser Film, hat viele Gesichter.
Info: „Vielleicht in einem anderen Leben“ (Österreich 2010), Regie und Drehbuch: Elisabeth Scharang (nach einem Stück von Silke Hassler und Peter Turrini), mit Ursula Strauss, Johannes Krisch, Péter Végh u.a. Der Film läuft ab sofort im Kino.