Ausstellung: Simone de Beauvoir und „Das andere Geschlecht“
Paris, 1946. Im Café Les Deux Magots sitzt Simone de Beauvoir an einem Tisch und starrt frustriert auf ein leeres Blatt Papier. Schreiben, ja – aber worüber? Der hereinkommende Künstler Alberto Giacometti will wissen, warum Beauvoir so ein böses Gesicht macht. „Weil ich schreiben möchte und nicht weiß, was ich schreiben soll“, antwortet diese. Doch da ist sehr wohl eine Idee, die schon länger in ihr schlummert: Sie möchte über sich selbst schreiben. Ihre Kindheit und Jugend schildern, darlegen, wie sie zu der wurde, die sie heute ist. Dafür will Beauvoir zuerst danach fragen, was es für sie bedeutet, eine Frau zu sein – und glaubt, mit der Antwort darauf schnell fertig zu sein. Schließlich „bedauerte ich nicht, eine Frau zu sein; ich zog im Gegenteil große Befriedigung daraus.“ Als sie ihrem Partner Jean-Paul Sartre davon berichtet, gibt der zu bedenken, Beauvoir sei dennoch nicht so erzogen worden wie ein Junge: „Das muss man genauer untersuchen.“
Das Ergebnis dieser Untersuchung heißt Das andere Geschlecht (frz. Le deuxième sexe) und ist im Original gut 1000 Seiten dick. Denn als sie erst einmal damit beginnt, sich die Frage nach dem Frausein zu stellen, wird Beauvoir klar, dass diese über sie selbst hinausgeht – und es verdient, in einem eigenen Buch behandelt zu werden. Sie stellt fest: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Als Das andere Geschlecht 1949 in zwei Bänden erscheint, sorgt es für einen Skandal, was vor allem an Vorabdrucken in der von Beauvoir und Sartre herausgegebenen Zeitung Les Temps Modernes liegt: Dort wird ein Kapitel mit dem anstößigen Titel Die sexuelle Initiation der Frau veröffentlicht. Beauvoir erhält Briefe, anonym und signiert, in denen ihr vorgeworfen wird, wahlweise sexuell unbefriedigt oder nymphoman zu sein, lesbisch oder frigide. Die Autorin wird auf offener Straße beschimpft und bedroht, man zeigt mit dem Finger auf sie und lacht über sie.
Von der Tochter aus gutem Hause zur berühmten Feministin
Doch es ist Simone de Beauvoir, die als Letzte lacht: Das andere Geschlecht gilt heute, 73 Jahre nach seinem Erscheinen, immer noch als feministischer Klassiker. Grund genug für die Bundeskunsthalle in Bonn, dem Werk und seiner Verfasserin eine eigene Ausstellung zu widmen: „Simone de Beauvoir und ‚Das andere Geschlecht‘“. Besucher*innen können nachverfolgen, wie die Tochter aus katholischem, großbürgerlichem Haus, zu einer berühmten Schriftstellerin, Philosophin und Feministin wurde. Es gibt zahlreiche Fotos von Beauvoir, beim Arbeiten, mit Sartre, demonstrierend auf der Straße – und sogar eine Skulptur von Beauvoirs Kopf, die von dem eingangs erwähnten Alberto Giacometti stammt. Die zahlreichen Fotos aus dem Paris der 1940er und 1950er Jahre, von Cafés und Bars, von Menschen wie Albert Camus und Boris Vian, erlauben eine Reise in die Zeit, als Beauvoir und Sartre auf dem Gipfel ihres Erfolg waren und existenzialistische Ideen Hochkonjunktur hatten.
Zu ihrem eigentlichen Thema, nämlich Das andere Geschlecht, findet die Ausstellung hingegen keinen wirklichen Zugang. Zwar ist das Buch in diversen Übersetzungen und Ausgaben in der ganzen Ausstellung verstreut, sein Inhalt wird auf eine große Leinwand projiziert und auch ein Ausschnitt aus Beauvoirs Originalmanuskript ist zu sehen. Aber was genau Das andere Geschlecht 1949 zu so einem Skandalwerk machte und warum sich die Lektüre auch heute noch lohnt, erfährt man nicht. Daran ändern auch kurze Videointerviews mit Beauvoirs Nachlassverwalterin und Adoptivtochter Sylvie Le Bon de Beauvoir wenig, oder mit Alice Schwarzer, die Beauvoir mehrfach interviewte. Zwar wird Beauvoirs Engagement in der französischen Frauenbewegung der 1970er Jahre dargestellt, der Gegenwartsbezug fehlt jedoch. Genauso wie – durchaus berechtigte – Kritik an Simone de Beauvoir und Das andere Geschlecht.
Trennung von biologischem und sozialem Geschlecht
Das ist schade, denn so wird eine Gelegenheit versäumt, dieses Werk einem breiten Publikum und einer neuen Generation zugänglich zu machen. Denn dank seines enormen Umfangs und seines Themas dürfte Das andere Geschlecht zu den Büchern gehören, die zwar gerne zitiert, aber wenig gelesen werden. Dabei gibt es darin immer noch viel zu entdecken. Es mag mittlerweile an einigen Stellen überholt sein – in fast 75 Jahren hat sich gesellschaftlich wie politisch doch vieles geändert. Aber die Überlegungen Beauvoirs stellen im besten Fall auch heute noch hilfreiche Analysewerkzeuge dar, oder zumindest interessante Denkansätze. Ein Beispiel: Die klare Trennung von biologischem und sozialem Geschlecht. Für Beauvoir ist Biologie kein Schicksal, es gibt keine durch die Anatomie bestimmte „weibliche Essenz“, die Frauen bestimmte Verhaltensweisen oder ein bestimmtes Leben auferlegt. Es wäre eines von vielen Themen gewesen, auf die die Ausstellung hätte eingehen können: Wie denken wir Geschlecht heute und inwiefern sind Beauvoirs Ausführen dazu nützlich – oder eben nicht?
Wer vorhat, sich endlich einmal mit Simone de Beauvoir und Das andere Geschlecht zu beschäftigen, für den lohnt sich die liebevoll gestaltete Ausstellung dennoch. Sie bietet einen guten Überblick über Beauvoirs Leben und Werk und schafft es, die Besucher*innen ins Paris der Nachkriegszeit zu versetzen. Vor allem macht die Ausstellung Lust auf Beauvoir, Lust darauf, etwas von ihr zu lesen. Vielleicht sogar Das andere Geschlecht.
„Simone de Beauvoir und ‚Das andere Geschlecht‘“, Bundeskunsthalle, Bonn, 4. März bis 16. Oktober 2022.