Kultur

Auslaufmodell Staat?

von Die Redaktion · 18. Oktober 2005

Für viele gilt als ausgemacht, dass sich die ökonomischen Probleme unseres Landes, insbesondere die Massenarbeitslosigkeit mit "weniger Staat" besser bewältigen lassen. Wir kennen das Lamento, das beständig weniger Intervention in das Marktgeschehen und weniger Steuern fordert - sowohl vor wie nach jeder Steuersenkung.

Diese Argumente sind, wie Erhard Eppler zeigt, in zweifacher Hinsicht fragwürdig: Zum einen bedarf eine funktionierende Wirtschaft der Ordnungsleistungen des modernen Staates, denn ökonomischer Erfolg beruht auf Rahmenbedingungen, die der Markt nicht selbsttätig produzieren kann.

Durch die Internationalisierung wirtschaftlicher Prozesse steigt der Regulierungsbedarf noch. Zum anderen benötigt eine gestaltende Politik Handlungsspielräume. Um sie zu bewahren und dort, wo sie bereits verloren sind, zurückzugewinnen, mahnt Eppler beispielsweise, den für alle ruinösen Steuersenkungswettlauf der Staaten innerhalb der EU zu beenden.

Erhard Epplers Analyse besticht durch die Mischung aus fester Überzeugung, klarer Argumentation und kritischem Blick. So gestaltet er seit Jahrzehnten auch die Programmatik seiner SPD mit und erhebt, wo es ihm nötig scheint, Einspruch.

Wenn sich wesentliche Parameter verändern, sieht er das oft früher als andere. Leicht hat er es sich dabei nie gemacht - und auch sein aktuelles Plädoyer für moderne Staatlichkeit präsentiert keine einfachen Rezepte.

Eppler vermag zu differenzieren: Wettbewerb und Eigenverantwortung sind in vielen Lebensbereichen sinnvoll. Es gibt aber Dinge, die eignen sich nicht zur Privatisierung, Deregulierung und Marktsteuerung.

Bei der Bildung und Kulturförderung etwa entstehen Probleme, weil der Staat zu wenig tut. Auch Verbrechensbekämpfung, Strafvollzug und die Abwehr von Gewalt gehören für ihn in den engsten Aufgabenbereich des demokratischen Rechtsstaates, der das einzig legitime Gewaltmonopol beanspruchen kann.

Beunruhigend sind seine kenntnisreichen Schilderungen über Gebiete in der Welt, wo genau dies nicht oder nicht mehr gelingt. Wo Warlords regieren, wo Gewalt und der Schutz vor Lebensbedrohung gleichermaßen "privatisiert" sind, dort herrschen Angst, Not und Barbarei.

Erhard Eppler weiß andererseits nur zu gut: Der allzu starke, der totale Staat erdrückt die Menschen. Dies ist eine Erfahrung des 20. Jahrhunderts. Wer allerdings heute unter Berufung auf die Freiheit überall "staatliche Bevormundung" beklagt oder den Staat als "Taschendieb" desavouiert, legt dieser Kritik einen anderen Freiheitsbegriff zu Grunde als Erhard Eppler:

Um seine Aufgaben zu erfüllen und damit ein Leben in Freiheit erst möglich zu machen, bedarf der demokratische Staat der Ausstattung mit Finanzmitteln, die er von seinen Bürgern einfordern muss.

Wo individuelle Freiheit sich nicht in der Chance erschöpfen soll, die Arbeitskraft frei zu Markte tragen zu dürfen (oft ohne Garantie, dass sie dort einen würdigen Preis erzielt), brauchen wir einen handlungsfähigen Staat, der zugleich noch stärker als bisher mit anderen gesellschaftlichen Akteuren kooperiert.

Eine gehaltvolle Freiheit setzt materielle Teilhabe voraus und wird nur erlebbar, wenn Menschen tatsächlich die Wahl haben zwischen Alternativen und zwischen unterschiedlichen Lebensentwürfen. Dazu gehört, dass sie im politischen Leben wie im Arbeitsleben, mitwirken und mitbestimmen können.

Engagement entsteht nur dort, wo jenseits der Zwänge Chancen dafür wahrgenommen werden können. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Beteiligung und Mitbestimmung am Arbeitsplatz und deren Weiterentwicklung, für die wir in den Gewerkschaften stehen.

Sozialdemokraten und Gewerkschafter wissen aus der gemeinsamen Erfahrung, dass ohne verbindliche Normensetzung der Stärkere dem Schwächeren die Freiheit vorenthält. Wirkliche Freiheit und Humanität sind ohne Gerechtigkeit und Solidarität nicht zu denken.

Staatlichkeit ist dabei nach Erhard Epplers berechtigter Überzeugung unverzichtbar. Wir müssen mit ihm dafür eintreten, dass diese sich auch transnational weiter entwickelt, nicht aber im Namen eines fragwürdigen Freiheitsbegriffs weiter geschwächt wird.

Von Berthold Huber, 2. Vorsitzender der IG Metall

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