Auschwitz-Überlebende: Weil den Zeitzeugen die Zeit davonrennt
Laura Strübbe
An die Zeit des Faschismus erinnern sich seit mehr als 70 Jahren Holocaust-Überlebende mit den Menschen auf der ganzen Welt. Doch: „Den Zeitzeugen rennt die Zeit davon.“ Dem ist sich die Direktorin für globale Initiativen der USC Shoah Foundation Karen Jungblut am Dienstag im Deutschen Technikmuseum bei der Projektvorstellung ‚Dimensions in Testimony’ bewusst. Seit Beginn der Aufzeichnungen von Interviews im Jahr 2015 sind bereits drei Teilnehmende verstorben. In der vermeintlichen „Hauptstadt des neuen Antisemitismus“, wie der Stellvertretende Direktor des Technikmuseums Joseph Hoppe die heutige Lage Berlins einschätzt, ist Anita Lasker-Wallfisch als Teil der Initiative virtuell zu Gast. Mit übergeschlagenen Beinen und verschränkten Händen blickt ihr digitales Ebenbild vom Flachbildschirm auf die Besucher*innen herab.
Lebensgeschichten in ihrer Dynamik bewahren
Lasker-Wallfisch, Mitbegründerin des English Chamber Orchestra, verbrachte im März 2019 eine Woche in London um 2000 Fragen zu ihrer Lebensgeschichte zu beantworten – vor Kameras und einem Mikrofon. Sie nahm wie auch 23 weitere Überlebende von Völkermorden an der von der Stiftung ‚Erinnerung, Verantwortung und Zukunft’ geförderten Initiative teil, dessen Ziel eine Aufzeichnung und Präsentation von Zeitzeugnissen ist. So soll der Dialog zwischen Überlebenden und Lernenden in den Fokus gerückt und auch den zukünftigen Generationen ermöglicht werden.
„In den öffentlichen Raum, den das Technikmuseum bietet, muss das Projekt gerade deshalb gesetzt werden, weil sich in dessen gesellschaftlicher Mitte immer stärker rechtes Gedankengut festigt.“, so Joseph Hoppe über seine Ambitionen. Im Clip spricht Anita Lasker-Wallfisch über dieses Pflichtgefühl, dass sie bewegt, um die Welt zu reisen und ihre Geschichte zu erzählen: von der versuchten Flucht aus der Zwangsarbeit der Papierfabrik, die misslang, eine Verhaftung nach sich zog und schließlich mit der Deportation nach Auschwitz endete. Von einem Leben im Konzentrationslager als Cellistin und von ihrem Sohn, der nach einem Abschluss in Philosophie in die Filmbranche ging. Ihren ganz eigenen Humor, ihre Unvermitteltheit sowie ihre klargesetzten Worte bringt sie in die Aufzeichnung hinein.
Es braucht Menschen, die Fragen stellen
Auf die Nachfrage einer Besucherin, ob die Reiserei sie nicht müde mache, antwortet Lasker-Wallfisch etwas aus dem Weg, dass Geschichtsbücher anders als Gespräche mit Zeitzeug*innen wirken würden. Auf dem Bildschirm verschwindet die 1924 in Belgrad geborene Frau, als die Technik auf Grund eines falschen Mausklicks ganz versagt und das System wieder hochgefahren werden muss. Die Software müsse weiterhin trainiert werden, spricht Karen Jungblut in die tuschelnde Menge hinein. Recht schnell zeigt sich in der Vorführung des Projekts, dass nur spezifisch gestellte Fragen dank moderner Spracherkennungsprogramme verarbeitet und so aufgezeichnete Aussagesequenzen der Überlebenden aktiviert werden können.
Mit Schulklassen läuft die Beta-Testphase des Zeitzeugnisses jedoch in diesem Monat erst an. Schüler*innen würden dank des Projekts Kompetenzen in Kommunikation und kritischem Denken vertiefen, so Hoppe. Ein Beitrag zur Verbesserung der politischen Bildung, in welchem das Format auch die Rolle des verantwortungsvollen Einsatzes von Technologie aufzeige. Die Integration des Projekts in Ausstellungen wäre hierbei ein Schritt zum Ziel, es in den großen gesellschaftlichen Alltag einzubringen, wie der Vorstand des Technikmuseums betont. „Es ist ein nie endender Prozess, der die Öffentlichkeit in ihrer Diversität braucht und aus den Gedenkstätten hinausgetragen werden muss.“
studiert Deutsche Literatur und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Praktikantin beim vorwärts.