Aus dem Untergrund nach ganz oben
Außerhalb von Fußball-Weltmeisterschaften findet Uruguay in Europa nur wenig Beachtung. Doch was für große Nachbarn wie Argentinien oder Brasilien gilt, kann auch das kleine Land am Rio de la Plata für sich in Anspruch nehmen: Das Ende der Militärherrschaft Ende der 1980er-Jahre setzte Prozesse in Gang und brachte Biografien hervor, die auch beim Blick auf Transformationsprozesse vor der eigenen Haustür lehrreich sein können.
Das gilt nicht nur, aber besonders für den früheren Staatspräsident José „Pepe“ Mujica, dessen Amtszeit vor kurzem zu Ende gegangen ist. Der heute fast 80-Jährige begann seine politische Karriere als linker Straßenguerillero und schmorte jahrelang im Gefängnis – wie so viele andere Aktivisten auch. Doch mit dem höchsten Amt im Staate legte Mujica einen ganz besonderen Marsch durch die Institutionen hin. Ihm und seiner langjährigen Mitstreiterin und Ehefrau Lucia Topolansky hat sich die Schweizer Filmemacherin Heidi Specogna in einem einfühlsamen, aber wenig weihevollen Dokumentarfilm gewidmet.
„Ärmster Präsident der Welt“ gibt 90 Prozent seines Salärs an soziale Projekte
Dabei bringt Mujica einiges mit, um als Ikone gesehen zu werden. Zum Beispiel 14 Jahre im Gefängnis – davon zwei Jahre in Einzelhaft auf dem nackten Boden einer ehemalige Pferdetränke – während der Zeit der Diktatur, weil er zum Gründungszirkel der linken Stadtguerilla MLN zählte. Nach seinem Amtsantritt als Staatsoberhaupt im Jahr 2010 verfolgt ihn der Beiname „ärmster Präsident der Welt“, denn er gibt gut 90 Prozent seines Salärs an soziale Projekte und Nichtregierungsorganisationen. Außerdem weigert sich der gelernte Blumenzüchter, seine Finca vor den Toren der Hauptstadt Montevideo gegen den Präsidentenpalast einzutauschen.
Und da wäre noch das Äußere. Nichts an diesem Mann, der sich in einer Filmszene bedächtigen Schrittes einer Rednerbühne nähert, wirkt im klassischen Sinne staatsmännisch. In Windjacke und Jeans spricht Mujica zu seinen Anhängern. Sollte die so sehr um ein unorthodoxes Auftreten bemühte Links-Rechts-Regierung in Griechenland etwa bei dem Politveteranen abgekupfert haben? Mujica lässt sich von protokollarischen Gepflogenheiten jedenfalls kaum beeindrucken, sei es in Uruguay oder etwa im Weißen Haus bei US-Präsident Barrack Obama. Auch mit politischen Vorhaben macht der Fan des früheren brasilianischen Präsidenten Lula da Silva Furore: Nachdem homosexuelle Lebensgemeinschaften bereits 2009 einen legalen Status erhalten hatten, wurden sie unter Mujica beim Recht auf Adoption und mit der Zulassung der Eheschließung rechtlich gegenüber den Heteros gleichgestellt. Außerdem trat im vergangenen Jahr das weltweit erste Gesetz inkraft, das den Anbau und Verkauf von Marihuana unter staatlicher Kontrolle legalisiert. Letzteren Schritt sah Mujica als Schlag gegen die Drogenkartelle – und wurde prompt für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Er selbst zeigt hingegen immer wieder eine eher nüchterne Selbstbetrachtung: „Wenn ich mich beschreiben sollte, würde ich sagen: Ich bin ein Erdklumpen mit Füßen.”
Für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen
Specogna begleitet Mujica im Alltag zwischen Finca und Amtsbüro und reist mit ihm zu öffentlichen Auftritten quer durchs Land. Dabei gelingt ihr ein spannender Perspektivwechsel zwischen dem über Missstände und Visionen räsonierenden Privatier und der öffentlichen Figur. Andererseits lässt sich ein Unterschied zwischen dem privaten und dem öffentlichen Mujica nur schwer ausmachen. Sowohl im heimischen Garten, in einen Gartenstuhl gefläzt und umringt von Kornblumen, Astern und Sonnenblumen, philosophiert er mit der gleichen Inbrunst und Gelassenheit über die Möglichkeiten einer gerechteren Politik wie in seinen Reden. Nicht nur in einer von ihm mit Hilfsgeldern errichteten Armensiedlung hängen ihm die Menschen an den Lippen, wenn er gleichnisartig von der Arroganz der Besitzenden spricht, die seit Jahrzehnten die Politik in Uruguay und großen Teilen Südamerikas die Politik bestimmen: „Sie sagen den Armen: Jetzt lernt mal schön schwimmen und vorher klauen sie ihnen die Boote.“
Die große Nähe zu den Protagonisten und deren Auskunftsfreude, die diesen Film auszeichnen, ist auch ein Ergebnis einer langjährigen Zusammenarbeit. Vor gut 20 Jahren drehte Specogna einen Dokumentarfilm darüber, wie sich nach dem Ende der Diktatur aus der einstigen Stadtguerilla ein politisches Bündnis formierte, dass Mujica und Topolansky zunächst den Weg ins Parlament ebnete. Damals ging es auch um die Folgen von Folter und Willkür. Abgesehen von Ausschnitten aus „Tupamaros“ ist „Pepe Mujica“ ganz in der Gegenwart verankert, um auch nach den Spuren der Macht zu fragen. Dazu gehört eine gemächliche Erzählweise, die sich Zeit für Straßentango in Montevideo und andere sinnliche Alltagsimpressionen nimmt. Als hätte der Lebensrhythmus des nachdenklichen, aber niemals resignierenden Ex-Staatschefs das Tempo des Ganzen vorgegeben. Keine Frage: Hier klingt der lange Atem eines unangepassten Politikers mit, der gelernt hat, nicht zu früh aufzugeben.
Info: Pepe Mujica – der Präsident (Deutschland 2014), ein Film von Heidi Specogna, mit Pepe Mujica und Lucia Topolansky, 94 Minuten, OmU. Ab sofort im Kino