Kultur

„Auf Verlangen Auszuliefern“

von Die Redaktion · 4. Dezember 2007
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Seit 1997 gibt es auf dem neu gestalteten Potsdamer Platz eine Varian Fry-Straße. Auf Bitten des Schriftstellers Hans Sahl wurde sie nach dem Fluchthelfer benannt. Aber kaum jemand weiß um die Heldentaten des Amerikaners. Eine Ausstellung des Vereins Aktives Museum möchte das ändern: Einladend ragt sie ins Foyer der Akademie der Künste und zeichnet Varian Frys Weg nach.



Horror in Berlin


29-jährig reist der Journalist Varian Fry 1935 erstmals nach Berlin. Die antisemitischen Ausschreitungen, deren Augenzeuge er wird, erschüttern ihn. In der "New York Times" und der "New York Post" informiert er die amerikanische Öffentlichkeit über die Menschenjagd der Nazis. Zurück in den USA engagiert sich der Harvard-Absolvent aus bürgerlich-liberalen Verhältnissen zunehmend für die Verfolgten des Hitler-Regimes.

Deutsche sind "auf Verlangen auszuliefern", heißt es im deutsch-französischen Waffenstillstandsabkommen von 1940. Das bedeutet das Ende des sicheren Exils in Frankreich. Als Reaktion darauf wird in New York ein "Fundraising Dinner" organisiert. 200 Gäste spenden für die bedrohten Exilanten. Noch in derselben Nacht gründet sich das "Emergency Rescue Committee" (ERC) mit dem Ziel, den Flüchtlingen zu helfen.

"Der Engel von Marseille"

Mit etwa 3000 Dollar und einer Liste von 200 besonders gefährdeten Personen erreicht Varian Fry als Gesandter des ERC im August 1940 Marseille. Er soll innerhalb von vier Wochen ein Fluchtnetzwerk aufbauen, und den Aufgelisteten den Weg in die USA ermöglichen. Ein Hotelzimmer im "Splendide" wird zum Hilfsbüro umfunktioniert: das "Centre Américain de Secours".

Noch haben die Nazis die Stadt nicht besetzt. Sie ist voll von Flüchtlingen. Wer keine Papiere hat, sitzt in einer tödlichen Falle. Die Menschen kommen in Scharen, alle hoffen auf Rettung: "Noch bevor meine erste Woche in Marseille zuende ging, hatte es sich offenbar in der gesamten nicht besetzten Zone herumgesprochen, daß ein Amerikaner ... angekommen war, wie ein Engel vom Himmel ... Taschen voller Geld und Pässe ...", schreibt Fry in seinem 1945 erschienen Buch "Surrender on Demand" ("Auslieferung auf Verlangen").

Aus den geplanten vier Wochen seines Aufenthalts wird mehr als ein Jahr. In dieser Zeit rettet Fry mindestens 2000 Menschen das Leben - die genaue Zahl ist unbekannt. "Unseren guten Engel von Marseille" nennt der Berliner Publizist Carl Misch seinen Retter Varian Fry im "Aufbau".

Mit allen Mitteln

Fry mietet immer größere Büroräume an und versammelt einen loyalen Mitarbeiterstab um sich. Schnell erkennt er, dass legale Mittel unzureichend sind. Ohne zu zögern tut er, was zur Rettung der Menschen nötig ist: Er organisiert gefälschte Pässe und Papiere, lässt die Menschen auf illegalen Wegen über die Pyrenäen schleusen.

Ende August 1941 dulden die Behörden Frys Aktivitäten nicht länger. Er wird verhaftet und nach Spanien ausgewiesen. Die Amerikaner unterstützen den Journalisten nicht mehr, sie verlangen seine Heimkehr. Bis er endgültig zur Rückkehr in die USA gezwungen ist, arbeitet er in Lissabon noch zwei Monate lang an der Rettung von Flüchtlingen.

Bedeutende Künstler und Intellektuelle verdanken Varian Fry ihr Leben: darunter Alfred Döblin, Leonhard Frank, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Franz Werfel, Walter Mehring. Aber Fry hilft nicht nur Prominenten, auch völlig unbekannten Personen wird seine Hilfe zuteil.

Enttäuschung in der Heimat

Zurück in den USA muss Fry erkennen, dass das ERC sein Engagement in Frankreich nicht würdigt. Es verurteilt seine Bereitschaft, auch mit illegalen Mitteln Leben zu retten.

Er vereinsamt zunehmend. Das FBI überwacht ihn als potentiellen Kommunisten, während er sich konservativ orientiert. Mit dem Verfassen von Werbebroschüren für "Coca Cola" bestreitet er seinen Lebensunterhalt. Fry stirbt 1967 - wenige Monate vor seinem Tod erlebt er seine einzige Ehrung. Frankreich zeichnet ihn als "Chevalier de la Légion d'honneur" aus. Posthum ehrt Israel Fry 1996 als "Gerechten unter und den Völkern".



Späte Würdigung


Die Berliner Ausstellung ehrt Fry, glorifiziert ihn aber nicht als Einzelkämpfer. Sie macht deutlich, wie das von ihm aufgebaute Netzwerk der Fluchthelfer unermüdlich arbeitet. Nur so kann Hunderten die Flucht nach Übersee ermöglicht werden.

Zahlreiche ehrenamtliche Mitarbeiter des Vereins Aktives Museum haben die materialreiche, wichtige Schau erarbeitet. Die Berliner Akademie der Künste bietet die Ausstellungsfläche. Der Ort könnte passender nicht sein: Etliche Mitglieder konnten den Nazis nur durch Frys mutiges Engagement entkommen.

Begleitend zur Ausstellung ist ein umfangreicher, empfehlenswerter Katalog erschienen.

Birgit Güll

"Ohne zu zögern. Varian Fry: Berlin - Marseille - New York"

Akademie der Künste, Pariser Platz 4, bis 30. Dezember, Di. bis So. 11 bis 20 Uhr, Eintritt frei

9. Dezember, 11 Uhr: Lesung "Von Rettern und Geretteten"

16. Dezember, 19 Uhr: Dokumentarfilm "Villa Air Bel"

Aktives Museum (Hg.) "Ohne zu zögern. Varian Fry: Berlin-Marseille-New York", 496 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-00-022946-6

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