Kultur

Auf dem Weg zur deutschen Einheit

von Die Redaktion · 6. Oktober 2005

Die Veröffentlichung von Helmut Schmidts Buch "Auf dem Weg zur deutschen Einheit" wird wohl in den Schatten der aktuellen politischen Ereignisse fallen. Die Bundestagswahl hat uns und die Medien so beschäftigt,

dass dem Jubiläum, das wir am 3. Oktober feiern werden,

bisher kaum Aufmerksamkeit gewidmet wurde.

Nun sind 15 Jahre gewiss nicht so bedeutend, wie zum Beispiel das

zehnjährige Jubiläum, das wir am Brandenburger Tor mit den Größen

der Weltpolitik zur Zeitenwende von 1989/90 feierten.

Aber hat sich die Sache mit der Einheit etwa seitdem erledigt?

Sind wir schon so weit, dass sich wegen zunehmender

Fortschritte beim Aufbau Ost und wachsender Selbstverständlichkeit

des Zusammenlebens das Gedenken nach und nach erübrigt?

Das Thema Aufbau Ost spielte im gerade zurückliegenden

Wahlkampf zunächst kaum eine Rolle. Keine der Parteien

unterbreitete spektakuläre Vorschläge - bis es zu den fatalen

Äußerungen von Schönbohm und Stoiber kam. Dabei hatten

beide nur einmal laut gedacht. Jenseits aller Sprachregelungen

und Floskeln offenbarten sie allerdings, welch abgrundtiefe

Vorurteile die Sicht auf den Osten noch immer prägen.

Schönbohm mochte das hinterher noch Leid tun,

die Stoiberschen Äußerungen, wenn sie denn

auf den bayerischen Wähler zielten, gingen schon davon aus,

dass sich damit mehrheitsfähige Ost-Antipathien mobilisieren ließen.

Das Tabu war ungewollt gebrochen - und egal,

ob es der eigenen Kandidatin damit an den Kragen ging -

die politische Brisanz des Ost-West-Themas war plötzlich wieder da.

Wer nach den Ursachen fragt, wird in Helmut Schmidts Analysen

seit der Wende vor allem einen roten Faden finden:

die anhaltende Misere des Ostens als ein ökonomisches Problem

von Anfang an und deshalb das Land auch mental weiter trennend.

Helmut Schmidt schreibt im Vorwort unumwunden:

"Ich bin mit dem Erreichten keineswegs zufrieden.

Wenngleich kein Marxist, so wusste ich doch immer,

der Lehrsatz, nach dem das ökonomische Sein das Bewusstsein

bestimmt, enthält zwar nicht die ganze Wahrheit, aber doch

eine psychologisch und politisch höchst wichtige Einsicht."

Helmut Schmidt hat in den Jahren seit 1989 sein unbedingtes Ja

zur deutschen Vereinigung immer mit der Frage nach dem

Wie der Wiedervereinigung der beiden über 40 Jahre getrennten

Volkswirtschaften verbunden.

Das ist die große Linie, die sich durch Helmut Schmidts Beiträge zieht.

Das beginnt mit dem besorgten Ruf an die DDR-Bürger

im Dezember 1989, die durch Umsicht, Beharrlichkeit und Geduld

errungene Freiheit nicht zu gefährden, trotz zunehmender

ökonomischer Schwierigkeiten

("Eure wirtschaftliche Lage wird sich zunächst verschlechtern").

Er fügt dem damals hinzu:

"Vertraut auf unsere Hilfsbereitschaft. Sagt, was Ihr braucht."

Was für eine Zeit, welch ein Anfang! Ich kann es bezeugen!

Getragen vom gleichen Geiste, Helmut Schmidts Rede

am 12. Februar 1990 auf dem Marktplatz von Rostock:

"Solidarität ist unteilbar."

Aber hier schon mahnende Worte, "schrittweise" voranzugehen.

"Die Schritte dürfen nicht zu groß sein, denn

wenn man mal einen falschen Schritt macht …

dann werden davon möglicherweise Zigtausende Menschen

betroffen - und es ist schwer, ihn rückgängig zu machen" (Seite 30).

"Die sieben Kardinalfehler der Wiedervereinigung",

nicht mehr reparable Fehler, sah Helmut Schmidt schon

1993 bei den Regelungen der Währungs-, Vermögens-,

Eigentumsfragen (Seite 119-126).

Immer mehr rückt dann ein anderes Problem

ins Zentrum seiner Kritik und bestimmt viele seiner Vorschläge:

die Übertragung des westdeutschen Rechts- und Paragraphenwesens

auf den Osten als Hemmschuh der ostdeutschen Entwicklung

und Lähmung der Initiative. Man denke dabei an den

ersten seiner Ratschläge an die Ostdeutschen -

"Habt keine Angst vor dem Gespenst Kapitalismus … denn nichts kann …

geschehen ohne den Willen der von Euch frei gewählten Volksvertreter"

(Seite 17) und ahnt, dass dieser frühe Rat von 1989 auch zu spät kommt,

weil der Pfad der Ausnahmeregeln ausgetreten ist.

Ein "Paukenschlag für den Osten" (2001) müsste vor allem

auch im Westen Gehör finden. Darauf zielt jedenfalls die besorgte,

wie leidenschaftlich vorgetragene Bilanz Helmut Schmidts.

"Statt eines Nachworts" nennt er sie trotzig:

"Es ist noch nicht zu spät".

Immer noch habe aber "die große Mehrheit der Deutschen

nicht verstanden, dass die Zukunftsfähigkeit unseres Landes

entscheidend davon abhängen wird, ob es und wie schnell es

uns gelingt, im Osten des Vaterlandes annähernd gleiche

ökonomische Bedingungen herzustellen wie im Westen" (Seite 218 f.).

Ohne weitere wirtschaftspolitische Anstrengungen bliebe der Osten

"auf lange Zeit eine Krisenregion … die gesamtdeutsche

finanzpolitische Kalamität würde nicht behoben

- und Deutschland bliebe weit hinter

seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit zurück".

Wer es nicht wahrhaben will, lese alle Argumente nach

und wird erkennen, dass das ostdeutsche Problem zum

Problem ganz Deutschlands geworden ist.

Von Wolfgang Thierse

Wolfgang Thierse ist Bundestagspräsident

und stellvertretender SPD-Parteivorsitzender.

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