Kultur

"Argentinien gaukelt ein einheitliches Bild vor"

von Birgit Güll · 5. Oktober 2010
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Sie sind 1972 in Buenos Aires geboren, seit vierzehn Jahren leben Sie in Berlin. Was erwarten Sie sich davon, dass Argentinien das Gastland der Frankfurter Buchmesse 2010 ist?

In erster Linie ist es eine Chance, die neuere argentinische Literatur kennenzulernen. Dank des Programms "Sur" wurden Übersetzungen ermöglicht, so dass jetzt eine größere Auswahl an Büchern auf Deutsch vorliegt. Ich habe die Möglichkeit wahrgenommen, sie zu lesen und einige der Autoren zu treffen. Ich denke aber immer wieder über die Schriftsteller nach, die nicht nach Deutschland kommen und deshalb unentdeckt bleiben.

Welche sind das?

Das sind die Autoren, für die sich das "Organisationskomitee für die Teilnahme Argentiniens als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2010" nicht entschieden hat. Die Auswahl scheint klar zu sein: Die meisten der in Frankfurt vorzustellenden Titel haben die Aufarbeitung der letzten Militärdiktatur bzw. die Auseinandersetzung mit den in den Jahren 1976 bis 1983 begangenen Menschenrechtsverletzungen zum Thema. Das ist wichtig. Aber auf einmal entsteht der Eindruck, in Argentinien wird nur noch darüber geschrieben.

Das Spektrum der präsentierten Literatur ist also nicht breit genug?

Es ist interessant, sich zu vergegenwärtigen, daß hinter allem eine Entscheidung und somit ein Ziel stehen. Das Gastland ist eingeladen, sich zu präsentieren, dabei zeigt es das, was vorzeigbar erscheint und blendet anderes aus. Politische, wirtschaftliche Interessen spielen eine enorme Rolle. Im Vorfeld der Messe ist mir unangenehm aufgefallen, dass es bei offiziellen Reden immer wieder - mehr oder weniger verdeckt - darum ging, Werbung für die Regierung von Präsidentin Kirchner zu machen. Das mißfällt mir, gerade weil der Umgang Cristina Kirchners mit der Pressefreiheit in Argentinien alles andere als unproblematisch ist. Darüber ist man sich in Deutschland nicht klar.

Geht es bei der Buchmesse weniger um Literatur als um Politik?

Das kann man so nicht sagen. Das Interesse an der Literatur Argentiniens ist enorm, und das geht hier natürlich vor. Man hat große Erwartungen, bzw. man feiert die sogenannten Enkel von Borges. Die Argentinier greifen dieses Interesse auf, indem sie ein einheitliches Bild vorgaukeln, das gerne rezipiert wird - schließlich geht es auch darum, Literatur zu verkaufen. In den 1960ern hatte man den Boom. Jetzt will man sich endlich von dem Begriff des "Magischen Realismus" - der, nebenbei gesagt, auf Argentinien nicht zutrifft - verabschieden, und die Aufarbeitung der Militärdiktatur bot sich als Überbegriff an.

Die Aufarbeitung der letzten Militärdiktatur als zentrales Thema der argentinischen Literaten ist also ein falsches Etikett?

Etiketten sind immer falsch und verdecken den Blick auf die Vielfalt. Dieses aber ist ein Etikett, das auf die jetzige Regierung gut zugeschnitten ist. Letztens hörte ich im Radio, in Argentinien werde "Memoria-Literatur" geschrieben. Da haben wir das neue Etikett, dachte ich mir, das den Magischen Realismus ablösen soll. Ich betone: Ich finde es sehr wichtig, dass Argentinien sich mit seiner Geschichte auseinandersetzt. Und die Autoren, die für die Buchmesse ausgewählt wurden, breiten zum Glück ihr eigenes Panoptikum aus. Trotzdem entsteht der falsche Eindruck, ganz Argentinien betreibt Vergangenheitsbewältigung.

Was nicht der Fall ist?

Das ist natürlich nur ein Teil der Wahrheit. Einige Intellektuelle tun das, die Menschenrechtsorganisationen tun das. Davon möchte in erster Linie die Regierung profitieren. Die Literatur liefert sowieso ihre eigene Sicht auf die Dinge und keine Wahrheiten. Sie liefert Bilder, Geschichten. Parallel dazu läuft der offizielle Diskurs. Sich den anzusehen, ist wichtig und manchmal auch sehr aufschlussreich. Mein Unmut hat damit zu tun, dass wir vielleicht abgelenkt werden und dadurch die Chance verpassen, uns wirklich mit unserer Vergangenheit auseinanderzusetzen, die komplizierter ist, als es uns recht wäre.

Was läuft falsch?

Ich gebe ein Beispiel. Im Jüdischen Museum Berlin läuft noch bis zum 10. Oktober die Ausstellung "Jüdisches Leben in Argentinien" - organisiert vom "Organisationskomitee für die Teilnahme Argentiniens als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2010" gemeinsam mit dem jüdischen Gemeindezentrum AMIA und der Botschaft der Republik Argentinien in Deutschland. Ich habe mir die Ausstellung angesehen und mich sehr darüber geärgert - übrigens auch über die Rezeption hierzulande.

Was hat Sie so verärgert?

Eigentlich soll es da um die jüdische Emigration nach Argentinien gehen, dabei soll die Erinnerung einer der leitenden Gedanken sein. Wie die Argentinier aber in diesem Rahmen mit Erinnerung umgehen, zeigt beispielsweise die "Unterirdische Bibliothek II". Diese Installation ist eine peinliche Reproduktion, eigentlich eine Usurpation, von Micha Ullmans "Denkmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung". Während bei Ullman die Regale im unterirdischen Raum auf dem Bebelplatz notwendigerweise leer bleiben, um die Erinnerung an die Untaten des 10. Mai 1933 wach zu halten, maßten sich die Ausstellungsmacher an, diese Bibliothek zu bestücken: Auf dem Boden des Jüdischen Museums projizieren sie ein manipuliertes Bild des Mahnmals, auf dem die Reagale voller bunter Bücher erscheinen.

Die Thematisierung trifft den Kern nicht, ist nicht ehrlich?

Sie würfelt alles zusammen, unter anderem den deutschen Holocaust und die letzte argentinische Militärdiktatur. Man nimmt weder Ullman, noch die deutsche Gedenkkultur ernst und maßt sich an, es besser zu wissen. Statt dessen sollte man Fragen an die eigene Geschichte stellen, um die es hier eigentlich gehen sollte.

Kann das an der Erwartungshaltung der Deutschen liegen: Liefern die Argentinier das, was die Deutschen unter Aufarbeitung verstehen?

Schwierig zu sagen; auf jeden Fall handelt es sich um eine politische Entscheidung.

Wie müsste eine ernsthafte Aufarbeitung der Geschichte aussehen?

Die Argentinier erinnern sich, das ist wichtig. Die viel wichtigere Frage erscheint mir aber: Wie erinnern sie sich?

Welche Rolle kann die Literatur bei dem Aufarbeitungsprozess spielen?

Kürzlich hat der argentinische Schriftsteller Alberto Manguel seinen neuen Roman "Alle Menschen lügen" vorgestellt und eine Formel gebraucht, die ich einleuchtend finde: Die Sprache der Politik und die Sprache der Werbung bedienen sich notwendigerweise der Lüge. Da ist die Welt schwarz oder weiß. Nichts ist zweideutig. Die Sprache der Literatur dagegen zeichnet sich durch Widersprüchlichkeit aus. Und genau das macht ihren Wahrheitsgehalt aus.

Sie stößt Diskussionen an?

Gute Literatur liefert keine Antworten oder Lösungen. Sie bietet dem Leser aber die Möglichkeit, sich einen Konflikt aus verschiedenen Perspektiven anzugucken, und die Chance, seinen ganz eigenen, persönlichen Weg ins Zentrum einzuschlagen. Wenn wir weiterhin in Kategorien wie Gut und Böse, Opfer und Täter denken, verfehlt der größte Teil von uns die Chance, sich selbst zu befragen. Es geht weniger um Schuld als um Verantwortung.

Warum sind Sie aus Argentinien weggegangen?

Der offizielle Grund war: Ich gehe dank eines DAAD-Stipendiums nach Berlin, um an der FU zu promovieren. Heute weiß ich, dass das nur zum Teil stimmt. Ich habe in der Tat promoviert, aber auch versucht, Dinge hinter mir zu lassen, die weh tun.

Wie gehen Sie mit Ihrer persönlichen Geschichte um?

Ich fahre heim, das heißt: Ich gehe zurück, indem ich darüber schreibe. Ich bin immer noch in Argentinien gefangen und immer noch in Argentinien verliebt - so paradox und widersprüchlich ist es nun mal. Deshalb spielt mein auf Deutsch verfasster Debütroman "Änderungsschneiderei Los Milagros" in Buenos Aires. Ich muss zurückgehen, es geht nicht anders, ich muß mir genauer anschauen, was ich verlassen habe. Aber Deutsch, die fremde Sprache, schützt mich. Es ist eine vorsichtige Annäherung. Es ist die Literatur, es ist die Fremdsprache, es sind die Bilder, die mich dabei auffangen. Das große Wort Freiheit verspüre ich in der Tat beim Schreiben. Für mich ist es eine schöne Vorstellung: Ich beschenke den Leser meines Buches mit der Freiheit der Interpretation.

Ihr Roman beschäftigt sich nicht mit der Militärdiktatur.

Als ich mit der "Änderungsschneiderei" anfing, wollte ich nicht, daß sie zur Zeit der Militärdiktatur spielt. Ich habe mich nicht getraut, glaube ich. Vor allem aber war es nicht mein Anliegen. Und dennoch: Die Geschichte spielt Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre. Die Hauptfigur ist Anfang 20, sie hat also die Militärdiktatur erlebt. Die Rückblenden, die die Kindheit der Heldin zum Thema haben, spielen in dieser Zeit, ohne dass ich explizit darauf hingewiesen habe. Einige der Bilder stammen ebenfalls aus dieser Epoche. Das ist das, was ich den "Keller des Romans" nenne.

Die Literatur unterstützt die Aufarbeitung von Geschichte?

Die Literatur, die Poesie, die Kunst bieten die Chance, glattpolierte Oberflächen in Frage zu stellen und tiefer zu gehen, Dinge in ihrer ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit wahrzunehmen. Gute Literatur gibt keine Antworten, sie stellt kluge Fragen, die jeder Leser für sich beantworten soll. Darin besteht die große Chance: Auch Literatur stößt Erinnerungsprozesse an, und wenn man Glück hat, erwischt sie sogar die Leute, die während der letzten Militärdiktatur weggeschaut haben.

Sie erreicht die schweigende Mehrheit?

Die Literatur kann sie erreichen. Das Kino kann das auch. Natürlich sind auch Institutionen und Projekte zur Aufarbeitung wichtig. Aber wir laufen Gefahr, dass Politiker, Initiatoren und Menschenrechtsorganisationen sich und ihrer Traditionen gedenken und die einzigen Adressaten der Gedenkaktionen werden - von der Gefahr einer einseitigen Geschichtsschreibung abgesehen.

Derzeit geht die Auseinandersetzung nicht tief genug?

In meinen Augen tut sie das nicht immer. Es ist kompliziert, weil der Beweggrund immer richtig ist. Was die Buchmesse betrifft, habe ich wenig Sorgen: Wenn die Politiker weg sind, bleiben die Bücher und der Wunsch, den Autoren wiederzubegegnen.

Autor*in
Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

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