"Die Arbeiterschaft wird in ihrer ganzen Differenzierung und ihren Beziehungen zu anderen Berufsgruppen beschrieben", erläuterte der Herausgeber, Dr. Gerhard Ritter bei der
Vorstellung des Buches in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Die Geschichte der Arbeiterbewegung solle mit der Sozial- und Kulturgeschichte zusammengeführt werden. Darin bestehe das
Grundkonzept der Reihe, so Ritter.
In der DDR sollte die Arbeiterklasse die "führende" Klasse sein. Scheinbar vollendete die DDR damit die Tradition der sozialistischen Arbeiterbewegung. Wie aber verhielten sich die Arbeiter
angesichts der ideologischen Stilisierung ihrer Klasse durch die Staatspartei SED? Wie gingen sie mit der ihnen zugewiesenen Rolle in Anbetracht ihrer faktischen Machtlosigkeit um? Mit einem
breiten methodischen Ansatz geht Kleßmann diesen Fragen im Spannungsfeld von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat in der DDR nach.
Mit 896 Seiten ist das Werk sehr umfangreich geworden. Der Autor dazu: "Ich habe erst selber einen Schreck bekommen, dass das Buch so dick geworden ist." Dr. Peter Steinbach von der
Universität Mannheim, der das Buch vorstellte, betonte jedoch, dass die DDR-Forschung mit diesem Werk einen großen Fortschritt gemacht habe.
Christoph Kleßmann lehrte als Professor für Zeitgeschichte an den Universitäten Bielefeld und Potsdam. Von 1996 bis 2004 war er Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der deutschen und polnischen Geschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts, insbesondere der NS-Zeit, der Bundesrepublik und der DDR.
Mamke Kühl
Dazu eine Rezension:
Arbeiterstaat - eine ideologische Mogelpackung
Unter dem Titel "Arbeiter im 'Arbeiterstaat' DDR" hat der Historiker Christoph Kleßmann Anspruch und Wirklichkeit untersucht. Seine Diagnose: Etikettenschwindel.
"Wie in allen sozialistischen Staaten ist in der DDR die Arbeiterklasse Träger der Macht. Unter Führung ihrer Partei, der SED, schuf sie den sozialistischen Staat der Arbeiter und Bauern."
Definitionen wie diese, 1974 von der Auslandspresseagentur GmbH veröffentlicht in "Wie lebt man in der DDR?", finden sich viele. Gern nannte sich die DDR erster "Arbeiterstaat" auf deutschem Boden.
Opfer einer Parteidiktatur
Doch wie lebten dort die Arbeiter? Welchen Einfluss hatten sie auf ihre eigenen Arbeitsbedingungen, auf ihre soziale Lage, auf die Politik? Welche Erfahrungen bestimmten ihr Denken und
Handeln? Und welchen Einfluss hatte der Westen auf die Arbeiterschaft im Osten? Christoph Kleßmann, bis zur Emeritierung 2004 Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, spürte
in einer umfassenden Studie einer Fülle von Fragen detailliert nach. Dabei umfasst der Wälzer von über 890 Seiten nur den Zeitraum von 1945 bis 1971, bis zum Ende der Ära Ulbricht.
Kleßmann hält der SED eine diffuse, an ideologischer Nützlichkeit orientierte Definition von Arbeiterklasse vor, eine Fixierung auf eine Arbeiterbewegung, die sich ausschließlich an
marxistisch-leninistischen Deutungen anlehnt und damit Differenzierungen unterschlägt. Und er beanstandet, dass die Arbeiterbewegung nach ihrer Zerschlagung im "Dritten Reich" zum zweiten Mal,
"wenn auch in ganz anderer Weise, Opfer einer Parteidiktatur" wurde. Im Gegensatz zur SED-Schreibweise der Arbeiterbewegung kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass sich die Arbeiterinteressen
jenseits der Ideologie nicht objektiv bestimmen, nicht von oben lenken lassen.
Von der Massen- zur Kaderpartei
"Als die neuen Herren und Besitzer der Produktionsmittel fühlten sich Arbeiter selten", so ein Resümee von Christoph Kleßmann. Er diagnostiziert eine "neue Klasse", die bürokratische
Funktionärsschicht, die das Sagen hat. Zumal frühzeitig der Umbau der SED von der Massen- zur Kaderpartei erfolgte. Ein über Jahrzehnte treibendes Element, die Arbeiterbewegung als
Emanzipationsbewegung, hat sich in der DDR nicht erfüllt, schon deshalb hat der Potsdamer Historiker in seinem Titel "Arbeiterstaat" in Anführungszeichen gesetzt.
Nun besteht Kleßmanns Buch aber keineswegs nur aus einer argumentativen Auseinandersetzung zwischen Ideologie und Realität. Sie ist nur die Quintessenz. Vielmehr widmet sich der Autor einem
Vierteljahrhundert Arbeiterschaft in der DDR mit unglaublich vielen Facetten. Er zieht einen weiten Bogen von den Anfängen des FDGB über Aktivistenkampagnen, Arbeiter- und Bauernfakultäten, den
Aufstand am 17. Juni 1953, Milieus, Frauenbewegung, Arbeiterkultur, Wohnquartiere, Mauerbau 1961, Löhne und Konsumverhalten, um nur wenige Stichworte zu nennen. Angesichts der Themenbandbreite und
akribischen Aufbereitung isthier ein gut lesbares Standardwerk zur deutschen Arbeiterbewegung entstanden, dem man eine große Leserschaft wünscht.
Gunter Lange
Christoph Kleßmann: Arbeiter im "Arbeiterstaat" DDR - Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell, westdeutsches Magnetfeld (1945 bis 1971) , Band 14 der Reihe "Geschichte der Arbeiter und
Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (herausgegeben von Gerhard A. Ritter), Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn, 2007, 896 Seiten, 68 Euro, ISBN 978-3-8012-5034-8