Ankunft im Polizeialltag
In Zeiten des Krimi-Booms kann man der Polizei auf dem Bildschirm schwer entkommen. Mit dem tatsächlichen Alltag der Menschen im Dienste der, wie sie sich nennt, Staatsgewalt haben die Einsätze smarter Drehbuch-Ermittler bekanntlich wenig zu tun,selbst wenn diese das öffentliche Bild der Polizei entscheidend, wenn auch unbewusst, prägen. Die Realität fällt meist weniger glamourös aus, wie zuletzt bei den Nazi-Krawallen im sächsischen Heidenau, denen die Beamten zeitweise wenig entgegensetzen konnten oder wollten, zu beobachten war.
Unfreiwillige Komik
In „Staatsdiener“ fängt die Regisseurin Marie Wilke ein, wie der tägliche Dienst von rund einer Viertelmillion Bundes- und Landesbediensteten wirklich aussieht. Auch, weil die Berlinerin mit einer „undifferenzierten Ablehnung“ gegenüber der Polizei groß geworden sei, wie sie in einem Interview sagt. „Ich wollte wissen, wie kann man Polizei noch sehen? Was machen die eigentlich? Wie genau wird man eigentlich zum Polizisten?“
Um das herauszufinden, begab sich Wilke an eine Polizeischule in Sachsen-Anhalt. Dort begleitete sie junge Männer und Frauen, ungefähr Mitte zwanzig, in ihrem ersten Studienjahr. Täglich lernen sie, was Recht und Gesetz für jeden Einzelnen bedeuten und wie beides im Alltag zu verteidigen ist. In Rollenspielen stellen sie Einbrecher oder trennen Streithähne. Immer wieder treten sie vor der Kamera an, um sich auf Einsätze bei Demonstrationen vorzubereiten. Wenn sie etwas unbeholfen mit Schilden und Schlagstöcken über den Hof marschieren und gemeinsam die altbekannte Schildkröten-Schutzstellung einnehmen, kommt unfreiwillig Komik auf – wer fühlt sich dabei nicht an die Formationsmärsche der vertrottelten Legionäre in den „Asterix“-Comics erinnert? Für die Polizeischüler ist die Sache weniger komisch, schließlich ist dies die Vorbereitung auf den Ernstfall als Bereitschaftspolizist, der ebenfalls zur Ausbildung gehört.
Wilke begleitet sie bei einer Demo und am Rande eines Fußballspiels. Dabei wird deutlich, wie rasch scheinbare Routinesituationen kippen können. Überhaupt packt einen dieser Film vor allem dann, wenn die Polizeischüler auf das echte Leben losgelassen werden. Insofern ist die erste Hälfte, die vor allem gut ausgeleuchtete Übungssituationen einfängt, mehr ein Vorlauf, der in Sachen Spannung und Dynamik reichlich Luft nach oben hat. Wenn auch die Diskussionen zwischen den Nachwuchspolizisten beim Feierabendbier eindringliche Episoden bieten. Scheinbar befreit vom Dienstalltag und völlig die Kamera vergessend, erörtern sie den Sinn ihres Tuns und was es mit ihnen anstellt. Gerade in diesen Momenten ist das Vertrauen zu spüren, das die Regisseurin in jahrelangen Vorbereitungen aufgebaut hat.
Zwischen Idealismus und Grenzerfahrungen
Von ganz anderer Wirkung sind allerdings die Szenen bei der dritten Ausbildungsstation, in den Polizeirevieren. Wilke zeigt vor allem die Abendstunden der 13-Stunden-Schichten, was die Sache allein optisch düsterer macht. Von Idealismus – bisweilen auch von Naivität – erfüllte junge Menschen treffen auf Existenzen, die für sie zu echten Grenzerfahrungen werden. Polizeischülerin Kathrin lernt, dass sich nicht jeder Konflikt mit Empathie lösen lässt, doch gerade ihr geht es darum, im Dienst auch die Würde der Menschen zu verteidigen, anstatt gleich loszuknüppeln.
Ihr Gegenpol ist Viktor, der weniger zimperliche Vorstellungen hat und von sich behauptet, er sei „der Staat“. Der drahtige Typ ist mit einem ausgeprägten Beschützerinstinkt gesegnet und schimpft zugleich auf die Gescheiterten dieser Gesellschaft. Dennoch würden beide vermutlich den Satz einer Kommilitonin unterschreiben, wonach alle Polizisten auch Sozialarbeiter seien. Die verwackelten Handkamerabilder aus der nächtlichen Plattenbausiedlung zeigen ohnehin, dass der Satz nicht nur eine Floskel ist. In diesen Szenen, die auch ohne Gewaltexzesse und Voyeurismus jeden Konfektions-Krimi toppen, gewinnt der Film besondere Tiefe.
Bei all dem gelingt es Wilke, sich ganz nah an Persönlichkeiten und Situationen heran zu wagen und trotzdem die Distanz zu wahren. Das bedeutet auch, dass das, was im Polizeiapparat vor sich geht, weder beschönigt noch verurteilt wird. Was Wilke ausdrücken möchte, erschließt sich unmittelbar aus dem Gezeigten. Es gibt weder einen Off-Kommentar noch Interviewhäppchen. Sie sind im Grunde auch gar nicht nötig, um deutlich zu machen, wie unterschiedlich die Selbstwahrnehmung der angehenden „Staatsdiener“ ausfällt. Die Protagonisten Kathrin und Viktor lernen, dass auch die Entwicklung ihrer inneren Haltung Teil der Ausbildung ist – und dass der damit verbunden Realitätscheck eine schmerzhafte Erfahrung sein kann, wie vor allem Kathrin bei ihren nächtlichen Touren durch Halle an der Saale anzusehen ist.
Info: Staatsdiener (Deutschland 2015), ein Film von Marie Wilke, 80 Minuten. Ab sofort im Kino.