Allein gegen das Machtmonstrum
Die endlose arktische Dämmerung der allerersten Einstellung vernebelt den Blick, das Auge findet keine Orientierung. Und schon ist man dem Sog dieses Films erlegen. Er wird bis zum Ende und weit darüber hinaus andauern. Bis dahin wird der Zuschauer keinesfalls mehr Sicherheit gewinnen. Abgesehen von der Gewissheit, dass es mit dem Protagonisten immer weiter bergab geht.
Leviathan: Das ist das walähnliche Monstrum, das Gott im Alten Testament präsentiert, um im Wettstreit mit dem Teufel das Unglaubliche seiner Schöpfungskraft zu demonstrieren. Und zwar keinem geringeren als Hiob, jenem Mann, dem der Allmächtige alles nimmt, um seinen Glauben zu prüfen. Der Staatstheoretiker Thomas Hobbes griff im 17. Jahrhundert die Überlieferung auf, um sein Bild vom Staat zu illustrieren: ein vom Menschen geschaffenes Ungetüm, das mit fleischgewordener Souveränität dem anpassungswilligen Einzelnen eine trügerische Sicherheit bietet, aber dessen Freiheit verschlingt.
Beide geistige Traditionen schwingen mit, wenn der russische Regisseur Andrey Zvyagintsev von einem erzählt,der auszog, sich mit der russischen Obrigkeit anzulegen. Seit Generationen ist Kolias Familie auf einem idyllischen Grundstück an der Barentssee zuhause. Mit seiner Frau Lilya und Sohn Roma führt der Automechaniker ein einfaches, aber weitgehend selbstbestimmtes Leben. Bis zu dem Moment, als der korrupte Bürgermeister Vadim den Reiz des Grundstücks entdeckt und dort – Prestige ist alles! – eine Kirche bauen will. Anfangs versucht er, Kolia den Grund gegen Geld abzuluchsen. Als das nichts wird, drückt der bestens vernetzte Stadtchef gerichtlich die Enteignung durch. Doch er hat nicht damit gerechnet, dass ihn Kolias Anwalt, der aus Moskau angereiste Freund Dmitri, erpressen könnte.
Nicht zu erschüttern
Willkür, Raffgier, Filz und überhaupt ein moralischer Verfall, der sich durch sämtliche Schichten der Gesellschaft frisst: Ruckzuck wähnen wir uns mitten in jener russischen Welt, die die ermordete Journalistin Anna Politkowskaja einst so bedrückend beschrieben hat. Da ist es fast schon eine Wohltat, wie beherzt Dmitri genau damit aufzuräumen sich anschickt. Wenn er mit dem wettergegerbten, bärbeißigen Kolia vor der großen Meeresblick-Fensterfront im Holzhaus tafelt und sich über die niederträchtige, aber auch lächerliche Welt da draußen mokiert, scheint dieses Gespann nichts erschüttern zu können. All der forsche Edelmut auf Seiten Dmitris macht allerdings skeptisch. Und zwar zurecht: „Der schöne Anwalt aus Moskau“ verfolgt seinen ganz eigenen Plan. Plötzlich steht Kolia dem Bürgermeister und dessen Phalanx ganz allein gegenüber. In diesem Kampf, der ungleicher nicht sein könnte, wird er weit mehr verlieren als sein Dach über dem Kopf.
Schon vor dem offiziellen Starttermin feierte „Leviathan“ beachtliche Erfolge. Der größte ist wohl der, dass er in Putins Reich, das seit Jahren immer rigoroser gegen unbequeme Künstler vorgeht, überhaupt gedreht werden konnte, zumal er zu gut einem Drittel vom russischen Kulturministerium finanziert wurde. Ob der Behörde klar war, wofür sie das Geld hergegeben hatte? In die russischen Kinos kam der Film nur in einer sprachlich bereinigten Form. Kein Wunder: Sogenannte Vulgärsprache ist in russischen Kulturerzeugnissen seit einiger Zeit verboten. Und Kolia und Konsorten sind darin nicht gerade zimperlich, zumal wenn Wodka im Spiel ist. Der fließt umso reichlicher, je mehr sich Kolias Krise zuspitzt.
Nachdem auch das internationale Echo immer stärker geworden war – in Cannes gewann „Leviathan“ den Preis für das beste Drehbuch und wurde als russischer Oscar-Kandidat ins Rennen geschickt – fürchtete der Kulturminister gar um das Ansehen Russlands im Ausland. Nun ja: Saufende Milizionäre, die mit Gewehren auf Porträts von Sowjetgrößen ballern, desillusionierte Arbeiterinnen in einer Fischfabrik oder ein Bürgermeister, der mitunter wie eine Putin-Karikatur agiert, stehen nicht gerade für einen Hochglanz-Blick auf das Riesenreich. Wenngleich Zvyagintsev die entscheidende Inspiration für seine Geschichte nicht dort, sondern in einem ähnlich gelagerten Fall in den USA gefunden hat, wie er sagt.
Morsche Welt
Dennoch ist seine Arbeit, allen global angelegten Aspekten zum Trotz, auch eine Parabel auf Putins Russland. Kolias Tragödie ist aufs Engste mit dem Niedergang von jeder Art von Würde und Menschlichkeit um ihn herum verknüpft. Dieses morsche, von innen wie außen zerfressene Gemeinwesen, bildet das krasse Gegenteil zu der majestätischen, wenn nicht gar furchteinflößenden Eleganz der nordischen Natur mit all den schneebedeckten Hügeln an der Wasserkante und dem Meer, das selbst in seiner Trägheit noch erhaben wirkt. Aus diesem Spannungsverhältnis speist sich eine albtraumhafte Schönheit mit Langzeitwirkung.
Vor dem Hintergrund eines menschlichen Trauerspiels schwingen dabei immer wieder auch Fragen von philosophischer Tiefe mit, wie man es aus Dostojewskis Romanen gewohnt ist. Immer wieder gerät ein Walskelett ins Blickfeld. Um uns die Zukunft des mächtigen Ungetüms namens Staat zu offenbaren? Oder um zu zeigen, dass sich die Menschen längst über Gott erhoben haben, wie der Pope beklagt? Keine Frage: Dieser in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche Film bietet faszinierende Untiefen.
Info: Leviathan (Russland 2014), ein Film von Andrey Zvyagintsev, mit Alexey Serebryakov, Roman Madyanov, Elena Lyadova, Vladimir Vdovitchenkov u.a., 140 Minuten.
Ab sofort im Kino