„All Inclusive“: Wie die Special Olympics junge Menschen beflügeln
Timo will in seinem Leben mehr erreichen als den typischen „Behindertenkram“, wie er es salopp nennt. Gemeint sind Werkstätten und ähnliche Einrichtungen. Der junge Mann will mehr. Er träumt von Erfolgen als Tennisspieler. Und zwar bei den Special Olympics in Berlin. Für eine Teilnahme an den Weltspielen für Menschen mit geistiger und mehrfacher Beeinträchtigung nimmt der Hamburger jahrelanges Training auf sich. Groß ist die Hoffnung des Mittzwanzigers, doch dieses Langzeitunternehmen hält so manche Enttäuschung für ihn bereit.
Vier wollen nach Berlin
Timo ist kein Einzelfall. Wenn am 17. Juni die Special Olympics erstmals in der Bundesrepublik starten, werden tausender solcher Geschichten in der deutschen Hauptstadt präsent sein. Geschichten von jungen Leuten, die es von Geburt an schwerer hatten als andere und denen kaum jemand etwas zugetraut hat. Nun geben sie alles für einen Triumph als Sportlerin oder Sportler. Weil eben doch einige Menschen an sie glauben und sie auf diesem Weg begleiten. Die sie dabei unterstützen, nicht am Rande zu stehen, sondern mittendrin zu sein. Oder auch, weil sie die Kraft zum Aufbruch (oder auch Ausbruch) allein aus sich selbst schöpfen.
Vier solcher Geschichten erzählt der deutsche Dokumentarfilm „All Inclusive“. Es geht um Persönlichkeiten mit völlig verschiedenen Themen und Kontexten. Sie eint der große Traum vom Ticket nach Berlin. Drei Jahre lang wurden sie mit der Kamera begleitet: beim Training und bei Ausscheidungswettkämpfen. Aber auch in ganz privaten Momenten mit Freunden und Familie oder auch ganz allein.
Ein steiniger Weg
Timo hat das Downsyndrom. Man könnte sagen, sein Handicap ist unschwer zu erkennen. Dennoch widerspricht sein Alltag vielen Klischees über Menschen mit Behinderung. Wenn sich der Hansestädter nicht auf dem Tennisplatz aufreibt, arbeitet er als Trainerassistent eines Sportvereins, dreht Influencer-Videos und bemüht sich um sein berufliches Fortkommen. Dass der Weg zu den Special Olympics für ihn steiniger ist als gedacht, nagt an seinem Selbstbewusstsein.
Bei den anderen Protagonist*innen erscheint die Beeinträchtigung weniger offensichtlich. Das sagt nichts über ihre Tragweite aus. Mary Stella lebt in einem Slum in Nairobi. Mit einer angeborenen Lern- und Gedächtnisschwäche hält das Leben für sie kaum etwas anderes bereit, als auch künftig im Haushalt der Tante zu leben und zu helfen. Auch sie hat höhere Ansprüche: Die Frau um die 30 will als Fußballerin durchstarten. In der Armensiedlung hat sie ein Team für junge Mütter gegründet. Berlin ist der nächste Schritt.
Dass auch Toivo an einer Beeinträchtigung leidet, merkt man vor allem daran, dass seine Mutter ihn jeden Morgen per Anruf im Wohnheim zum Aufstehen bewegen muss. Der Finne lebt mit dem Asperger-Syndrom. Mit einem Freund geht er bei landesweiten Segelwettkämpfen an den Start. Mit unumstößlichen Regeln und Enttäuschungen umzugehen, fällt ihm schwer.
Selbstbestimmtes Leben
Auch Uyangaa kämpft mit einigen Problemen. Wegen ihrer schweren Lernbehinderung kann die Teenagerin aus der Mongolei weder richtig lesen noch schreiben. Freund*innen hat sie kaum. Mit ihrer Mutter lebt sie in einer Jurte. Um Anschluss zu finden und selbstständiger zu werden, fängt sie an, Volleyball zu spielen. In Berlin mit einer Mannschaft dabei zu sein soll ihrem selbstbestimmten Leben weiteren Schub geben.
Mögen die Special Olympics zunehmende öffentliche Aufmerksamkeit genießen: Mit den Schicksalen von Menschen mit Behinderung im Allgemeinen und ebensolchen Athlet*innen im Besonderen sieht das ganz anders aus. Das will „All Inclusive“ ändern.
Der Dokumentarfilm legt den Fokus nicht auf das, was den Protagonist*innen im Wege steht, sondern darauf, was sie antreibt: also nicht auf ihre Beeinträchtigung, sondern auf ihre Träume, ihr Können – eben auf ihr gesamtes Potenzial. Gleichwohl werden die besonderen Herausforderungen nicht unter den Teppich gekehrt. Im Hintergrund schwingen sie stets mit.
Zeitgemäße Inklusion
Mit Empathie und Witz begegnet „All Inclusive“ den vier Sportler*innen. Damit machen die Filmemacher auch neugierig auf den Lebensweg andere Teilnehmer*innen der Special Olympics wie auch auf das sportliche Großereignis an sich. Vielleicht hätte das Ganze etwas weniger Feelgood-Stimmung (die entsprechend penetrant musikalisch untermalt wird) vertragen.
Dass der Film nah am Alltag seiner Figuren und frei von Pathos und Betroffenheitsblick über die eigentlichen Handlungsstränge hinaus einem dringlichen gesellschaftspolitischen Thema – nämlich der Debatte um eine zeitgemäße Inklusion – ein Forum bietet, ist mehr als verdienstvoll. Und in dieser Form sehr berührend.
„Al Inclusive“ (Deutschland 2023), ein Film von Thorsten Ernst, Tobias Lickes, Malte Nieschalk und Gordon Volk, 90 Minuten, OmU. Kinostart: 8. Juni.