Manche nennen sie Canan abla - große Schwester. Das ist ein gutes Zeichen. Dann hat sie es in der Regel geschafft, hat einen Draht zu den Schülern aufgebaut und dringt zu ihnen durch.
Canan Korucu-Rieger ist Guide in einem Museum und führt Schüler durch Ausstellungen. So weit, so normal. Doch ihre Arbeitsstätte ist das Jüdische Museum Berlin (JMB) und Canan Korucu-Rieger ist Deutsch-Türkin und gläubige Muslima. Da stutzen die meisten erstmal. Ganz besonders türkische und arabische Schüler.
Und so soll es auch sein. Ganz gezielt hat das JMB türkischstämmige Guides geschult und angestellt. Fünf Männer und Frauen sind es inzwischen, die insbesondere Kinder und Jugendliche durch den Liebeskind-Bau führen. Sie haben auch die so genannte Islam-Führung entwickelt, die den Titel trägt "Ist das im Islam nicht auch so?" und auf die Parallelen der beiden Religionen hinweist.
Zu Beginn jeder Führung fragt Canan Korucu-Rieger, ob es nach Ansicht der Schüler mehr Unterschiede oder mehr Gemeinsamkeiten zwischen Islam und Judentum gebe. Nicht zufällig steht sie
dabei unter einem künstlichen Baum, von dem papierne Äpfel hängen - Symbol für die Entstehungsgeschichte in gleich drei Weltreligionen, Christentum, Judentum und Islam.
Fast immer erhält die Museumsmitarbeiterin an diesem Punkt erstaunte Blicke. Je nach Zusammensetzung der Klasse ist die eine oder die andere Erzählung bekannt. Die Zehntklässler aus Köln, die
an diesem Tag eine Station ihrer Klassenfahrt im Jüdischen Museum Berlin absolvierten, stammen mehrheitlich aus deutschen Familien und sind eher mit der Version vom Baum der Erkenntnis vertraut,
von dem zuerst Eva nascht.
Takke und Kippa
Hochgezogene Augenbrauen erntet Korucu-Rieger, als sie berichtet, dass auch der Koran von Adam und Eva als ersten Menschen berichtet. Allerdings ist in der muslimischen Fassung die Rede vom
"Baum in der Mitte des Gartens". Außerdem ist es keine Schlange, sondern der Teufel Iblis, der die Menschen verführt.
"Im Koran ist auch keine Reihenfolge festgelegt, wer zuerst von der Frucht kostet", weist Canan Korucu-Rieger auf einen wichtigen Unterschied hin. Eine größere Schuld der Frau kennt diese Variante im Gegensatz zur jüdisch-christlichen nicht.
Schnell sind die Schüler mittendrin im Religionsthema - ein Fach, dass die meisten der Kölner Gruppe in der Schule längst abgegeben haben. Beim Vergleich wird es auf einmal wieder interessant. Aus der Erinnerung wird gekramt, was früher in "Reli" mal gelehrt wurde, was der arabische Nachbar erzählt hat, was der eine Schüler, die eine Schülerin vom Judentum aufgeschnappt hat. Dass die Religionen viel gemeinsam haben, wundert diese Gruppen nicht.
Bei anderen Führungen sind die Gemeinsamkeiten eine Erkenntnis, die erst im Laufe von Korucu-Riegers Vortrag, ihren Fragen und ihrem Erklären entsteht. Spätestens zwischen den Vitrinen mit
Kippa und Takke dämmert den meisten dann, dass sie falsch lagen. Die Kippa ist eine kleine Stoffmütze, eine Art minimalste Kopfbedeckung, mit der Juden ihrer Pflicht nachkommen können, in der
Synagoge nicht unbedeckt zu erscheinen.Die Takke hat die gleiche Form, ist aber oft gehäkelt und im Islam nicht verbindlich vorgeschrieben.
"Wer will mal eine aufsetzen", fragt Korucu-Rieger und reicht die Mützchen umher. Kichern der Mädchen als die Kippa vom wirren blonden Schopf eines Klassenkameraden fast herunterrutscht. "Wenn einer anfängt, ziehen dann fast alle die Kippa auf", so die erfahrene Museums-Führerin. Per Handykamera halten die Jungs den Moment fest. Die Jungen und Mädchen sitzen jetzt auf dem Boden, im Schneidersitz zwischen Vitrinen voller jüdischer und islamischer Artefakte.
Ein Punktsieg für das Museum. Die "Islam-Führungen" sind beliebt und häufig sind auch genau jene dabei, die das Museum lange Jahre vergeblich versucht hatte zu erreichen, eben Muslime. Das
Jüdische Museum Berlin steht in Kreuzberg, einem Stadtteil mit überdurchschnittlich hohem Anteil türkisch- und arabischstämmiger Bewohner. Also schaltete das Museum Anzeigen im türkischen
Lokalblatt, verteilte Postwurf-Einladungen auf Türkisch. Doch die Resonanz blieb aus.
Freilich lässt sich der Besuch türkischer Schüler nicht wirklich steuern, Einladungen an "Kiez"-Schulen blieben auch eher ohne Ergebnis. Es läuft anders, per Mundpropaganda, berichtet Jenny
Lose aus der Presseabteilung des Museums. Ein Lehrer, sagen wir aus einer Klasse in Neukölln, mit ebenfalls hohem Migrantenanteil, bucht die Führung für seine Klasse. "Und der merkt dann
plötzlich, wie gerade die Schüler sich beteiligen, die sonst den Mund halten oder eher als Rabauken auffallen", so Korucu-Rieger. Denn auf einmal können auch die mit Wissen glänzen, die sich in
Mathe oder Deutsch eher schwer tun.
Kein Tabu bei heiklen Themen
Kichern ist übrigens unbedingt erlaubt bei den Schüler-Führungen und bleibt selten aus, wenn Korucu-Rieger die aufgelockerte Stimmung nach der Kippa-Anprobe nutzt, um das Thema Beschneidung
aufs Tapet zu bringen. Noch eine Gemeinsamkeit. Im Islam ist das Beschneiden der männlichen Vorhaut ein Initiationsritus, der etwa in der Türkei zwischen dem achten und zehnten Lebensjahr
zelebriert wird. Das Judentum schreibt die Beschneidung von Neugeborenen am achten Lebenstag vor.
"Was, die sind auch beschnitten?" Diesen Ausruf hört Canan Korucu-Rieger
oft. "Die meisten muslimischen Jungs wissen nicht, dass Juden auch beschnitten sind. Sie halten das für eine Eigenart, etwas womit sie alleine stehen. Das ändert sich dann plötzlich und
stärkt ihr Selbstbewusstsein." Die nächste Runde Kichern steht an, wenn Korucu-Rieger berichtet, dass sowohl im Islam als auch im Judentum Männer verpflichtet sind, ihre Ehefrauen sexuell zu
befriedigen. Die Mädchen grinsen.
In gelöster Stimmung schlurfen alle zur nächsten Vitrine - ein weniger heikles Terrain für Teenager, denn es geht es um rituell unreine Lebensmittel.
Eine Menge Gemeinsamkeiten
Wie erfolgreich die Führungen sind, wie nah Canan Korucu-Rieger an die Klassen heran kommt, hängt von der jeweiligen Gruppe ab, und ob es eine Vorbereitung im Unterricht gab. "Mit der
Islam-Führung kriege ich aber eigentlich alle", sagt sie. Dabei spielt ihre eigene Herkunft eine große Rolle. Eine Türkin im jüdischen Museum, was macht die da und warum? Das fragen sich die
Schüler, ihre Neugier ist geweckt. Und Canan Korucu-Rieger gibt bereitwillig Auskunft. Die 29-Jährige bezeichnet sich als Deutschtürkin. Nordöstlich von Ankara geboren, kam sie mit zwei Jahren
nach Berlin. Während ihres Studiums der Erziehungs- und Genderwissenschaften begann sie, sich intensiv mit dem Islam zu beschäftigen.
"Ich glaubte an eine höhere Macht, aber konnte mit dem islamischen Frauenbild, wie ich es kannte, nichts anfangen", sagt sie. Also las sie selbst den Koran sowie feministische Auslegungen
und absolvierte ein Aufbaustudium in Islamologie. "Dadurch hat sich mein eigener Glaube verfestigt." Zu den Führungen im Jüdischen Museum Berlin kam sie über einen türkischen Bekannten und wegen
ihres Studiums. Der pädagogische Ansatz ist ihr wichtig.
Auf die Frage: "Was haben wir mit den Juden zu tun?" kann die Muslima mit einem selbstbewussten: "Eine ganze Menge" antworten. Derzeit arbeitet Canan Korucu-Rieger an ihrer Doktorarbeit mit dem Titel "Wandel muslimischer Familien in Deutschland". Ihr Stipendium hat sie übrigens von der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
Dieser Artikel erscheint in der neuesten Ausgabe des vorwärts - ab den Samstag, den 25. April 2009 am Kiosk.