Kultur

Absage an den Staat?

von Die Redaktion · 7. Oktober 2005

Die Zeit für ein solches Buch ist mehr als reif. Die Neigung,

alles Staatliche zu diffamieren, hat ein bedenkliches Ausmaß erreicht.

Die Politiker - so lautet die tägliche Botschaft - sind unfähig und

in vielen Fällen korrupt. Das Lamento über Deutschland

ist zur Grundmelodie von diversen Politikern, Wissenschaftlern,

Medien und Verbandsvertretern geworden.

Über die Auswirkungen dieser Klagelieder auf die mentale Verfassung

unserer Gesellschaft und die demokratische Substanz wird wenig

nachgedacht. Das Buch von Hans Peter Bull setzt hier Ausrufungszeichen.

Dabei wird nichts schön geredet oder bagatellisiert.

Es werden Schwächen und Gefahren beim Namen genannt,

wie Hans-Jochen Vogel in seiner Einleitung richtig schreibt.

Die Leitaussage von Hans Peter Bull lautet, dass die Bundesrepublik

Deutschland der bisher beste deutsche Staat sei

- trotz mancher Schwächen. Dieser deutsche Staat sei sowohl

im historischen als auch im Vergleich mit anderen westeuropäischen

Demokratien in einer guten Verfassung. Der Schutz der Menschenwürde

als oberstes Gebot staatlicher Gewalt sei gewährleistet.

Die Verfassungsorgane seien im Wesentlichen richtig organisiert und

leistungsfähig. Es gebe eine unabhängige Justiz. Die Verwaltungen

arbeiteten deutlich besser, als ihr Ruf ist. Polizei und Geheimdienste

seien - auch in Zeiten der Terrorismusbekämpfung - rechtlich gebunden.



An den Staat und seine Akteure würden nun alle Hoffnungen und

jedwede Erwartungen gerichtet. Und weil er die überzogenen

Erwartungen nicht erfülle - was er auch gar nicht könne -,

vermute man "Blockade", "Parteitaktik", falsche Prioritätensetzung

oder schlichtweg totales "Versagen" der Akteure.

Das ist für Hans Peter Bull der entscheidende Denkfehler.

Der Staat sei niemals völlig frei in seinen Entscheidungen

und Handlungsmöglichkeiten. Das könne er auf Grund vielfältiger,

einschränkender nationaler und internationaler Rahmenbedingungen

auch gar nicht sein. "Der Staat ist wie ein großes Gebäude. Dass ständig

Reparaturen und Umbauten notwendig sind, ist kein Beleg für einen

falschen Grundriss, sondern Folge der Nutzung durch lebendige Menschen."

Hans Peter Bull wendet sich vehement gegen die Zerrbilder,

mit denen der Sozialstaat in Frage gestellt wird, vor allem gegen den

konstruierten Gegensatz zwischen sozialstaatlicher Fürsorge und

Eigenverantwortung. Nur weil das Sozialleistungssystem in einer

Krise stecke, sei nicht gleich die Idee des Sozialstaats unzeitgemäß.

Nötig sei die Erörterung der konkreten Formen, in denen sich

der Sozialstaat und die Marktwirtschaft heute bewegen.

Das Buch enthält ein starkes Plädoyer für die repräsentative

parlamentarische Demokratie. Hans Peter Bull sieht neben den Stärken

der politischen Parteien und ihren wichtigen Rollen auch ihre Schwächen,

wendet sich aber in scharfem Ton gegen die allgegenwärtige populistische,

beifallssüchtige Politikerschelte. Politische Parteien sind in der

Massendemokratie für ihn unverzichtbar (wenn auch fehlerhaft).

Er wirft die einfache, aber klärende Frage auf, was denn wäre,

wenn es keine Parteien gäbe. Dann würden Verbände und Kammern,

Gewerkschaften, Konzerne und Unternehmen, Religionsgemeinschaften

und Wohlfahrtsverbände, Stiftungen und Vereine aller Art, Bürgerinitiativen

und Bürgerrechtsorganisationen in die Bresche springen müssen.

Aber jede dieser Gruppen würde für sich, und manche gemeinsam

mit anderen, versuchen, ihre jeweiligen Vorstellungen und Interessen

unmittelbar in den staatlichen Entscheidungsprozess einzubringen

und Gesetz werden zu lassen.

Dies erscheint ihm keineswegs als die bessere Perspektive.

Den oft behaupteten Gegensatz zwischen "Politikerkaste" und "Volk"

mag der Autor nicht nachvollziehen. Was heißt es aber für das

demokratische Gemeinwesen und die "Rekrutierung" von Politikern,

wenn sie einem Generalverdacht ausgesetzt werden und ihre Bezahlung

vor allem in der Boulevardpresse zum Gegenstand jedweder Vorurteile

gemacht wird? Politiker "sollen mehr arbeiten, mehr wissen und

mehr leisten als alle anderen, aber sich möglichst nicht von der

Menge abheben. Sie sollen nur unterdurchschnittlich verdienen

oder sich gar dem Gelübde der Armut unterwerfen. Sie sollen zugleich

herausragen und Mittelmaß bleiben". Darüber lohnt es nachzudenken.

Hans Peter Bull hat ein Buch geschrieben,

das ich in weiten Teilen gern selbst geschrieben hätte.

Von Peer Steinbrück

Peer Steinbrück war von 2002 bis 2005

Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen.

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