Die Zeit für ein solches Buch ist mehr als reif. Die Neigung,
alles Staatliche zu diffamieren, hat ein bedenkliches Ausmaß erreicht.
Die Politiker - so lautet die tägliche Botschaft - sind unfähig und
in vielen Fällen korrupt. Das Lamento über Deutschland
ist zur Grundmelodie von diversen Politikern, Wissenschaftlern,
Medien und Verbandsvertretern geworden.
Über die Auswirkungen dieser Klagelieder auf die mentale Verfassung
unserer Gesellschaft und die demokratische Substanz wird wenig
nachgedacht. Das Buch von Hans Peter Bull setzt hier Ausrufungszeichen.
Dabei wird nichts schön geredet oder bagatellisiert.
Es werden Schwächen und Gefahren beim Namen genannt,
wie Hans-Jochen Vogel in seiner Einleitung richtig schreibt.
Die Leitaussage von Hans Peter Bull lautet, dass die Bundesrepublik
Deutschland der bisher beste deutsche Staat sei
- trotz mancher Schwächen. Dieser deutsche Staat sei sowohl
im historischen als auch im Vergleich mit anderen westeuropäischen
Demokratien in einer guten Verfassung. Der Schutz der Menschenwürde
als oberstes Gebot staatlicher Gewalt sei gewährleistet.
Die Verfassungsorgane seien im Wesentlichen richtig organisiert und
leistungsfähig. Es gebe eine unabhängige Justiz. Die Verwaltungen
arbeiteten deutlich besser, als ihr Ruf ist. Polizei und Geheimdienste
seien - auch in Zeiten der Terrorismusbekämpfung - rechtlich gebunden.
An den Staat und seine Akteure würden nun alle Hoffnungen und
jedwede Erwartungen gerichtet. Und weil er die überzogenen
Erwartungen nicht erfülle - was er auch gar nicht könne -,
vermute man "Blockade", "Parteitaktik", falsche Prioritätensetzung
oder schlichtweg totales "Versagen" der Akteure.
Das ist für Hans Peter Bull der entscheidende Denkfehler.
Der Staat sei niemals völlig frei in seinen Entscheidungen
und Handlungsmöglichkeiten. Das könne er auf Grund vielfältiger,
einschränkender nationaler und internationaler Rahmenbedingungen
auch gar nicht sein. "Der Staat ist wie ein großes Gebäude. Dass ständig
Reparaturen und Umbauten notwendig sind, ist kein Beleg für einen
falschen Grundriss, sondern Folge der Nutzung durch lebendige Menschen."
Hans Peter Bull wendet sich vehement gegen die Zerrbilder,
mit denen der Sozialstaat in Frage gestellt wird, vor allem gegen den
konstruierten Gegensatz zwischen sozialstaatlicher Fürsorge und
Eigenverantwortung. Nur weil das Sozialleistungssystem in einer
Krise stecke, sei nicht gleich die Idee des Sozialstaats unzeitgemäß.
Nötig sei die Erörterung der konkreten Formen, in denen sich
der Sozialstaat und die Marktwirtschaft heute bewegen.
Das Buch enthält ein starkes Plädoyer für die repräsentative
parlamentarische Demokratie. Hans Peter Bull sieht neben den Stärken
der politischen Parteien und ihren wichtigen Rollen auch ihre Schwächen,
wendet sich aber in scharfem Ton gegen die allgegenwärtige populistische,
beifallssüchtige Politikerschelte. Politische Parteien sind in der
Massendemokratie für ihn unverzichtbar (wenn auch fehlerhaft).
Er wirft die einfache, aber klärende Frage auf, was denn wäre,
wenn es keine Parteien gäbe. Dann würden Verbände und Kammern,
Gewerkschaften, Konzerne und Unternehmen, Religionsgemeinschaften
und Wohlfahrtsverbände, Stiftungen und Vereine aller Art, Bürgerinitiativen
und Bürgerrechtsorganisationen in die Bresche springen müssen.
Aber jede dieser Gruppen würde für sich, und manche gemeinsam
mit anderen, versuchen, ihre jeweiligen Vorstellungen und Interessen
unmittelbar in den staatlichen Entscheidungsprozess einzubringen
und Gesetz werden zu lassen.
Dies erscheint ihm keineswegs als die bessere Perspektive.
Den oft behaupteten Gegensatz zwischen "Politikerkaste" und "Volk"
mag der Autor nicht nachvollziehen. Was heißt es aber für das
demokratische Gemeinwesen und die "Rekrutierung" von Politikern,
wenn sie einem Generalverdacht ausgesetzt werden und ihre Bezahlung
vor allem in der Boulevardpresse zum Gegenstand jedweder Vorurteile
gemacht wird? Politiker "sollen mehr arbeiten, mehr wissen und
mehr leisten als alle anderen, aber sich möglichst nicht von der
Menge abheben. Sie sollen nur unterdurchschnittlich verdienen
oder sich gar dem Gelübde der Armut unterwerfen. Sie sollen zugleich
herausragen und Mittelmaß bleiben". Darüber lohnt es nachzudenken.
Hans Peter Bull hat ein Buch geschrieben,
das ich in weiten Teilen gern selbst geschrieben hätte.
Von Peer Steinbrück
Peer Steinbrück war von 2002 bis 2005
Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen.
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