Kultur

Abgeschrieben

von ohne Autor · 11. Oktober 2008
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Jascha hat vier Geschwister, seine Mutter ist allein erziehend und relativ jung. Sie hält sich mit staatlicher Unterstützung und schlechten Jobs über Wasser - so, wie schon ihre Eltern. Armut ist erblich im reichen Deutschland. Jascha ist 19 Jahre alt, hat seine zehn Pflichtschuljahre hinter sich gebracht, und lebt von "Hartz IV". Jascha steht für eine ganze Schicht von Jugendlichen, die in derartigen Verhältnissen leben.

An Jaschas Beispiel erläutert die Journalistin die Zahlen und Sachverhalte, die sie in ihrem Buch anführt. "Die Biographie dieser Kinder ist eine Geschichte des Scheiterns, die im reichen Deutschland nicht sein müsste", schreibt sie. Und: "Wer in Deutschland in arme Verhältnisse geboren wird, hat nur geringe Chancen, aus seinen Talenten etwas zu machen." Die gesellschaftliche Mitte verliert ihr Integrationspotential, grenzt sich in ihrer Angst vor dem eigenen Abstieg zunehmend nach unten hin ab.

Sortiermaschine Bildungssystem

"Kinder aus 'schlechtem Hause' haben schlechte Chancen. Dieser Fakt wird durch das Bildungssystem erheblich verstärkt", ist die Autorin sicher. Zu früh werden die schwachen von den starken Schülern getrennt, zu wenig mischen sich die unterschiedlichen sozialen Schichten. Das Bildungssystem als unbarmherzige "Sortiermaschine" verstärke Nachteile. Kloepfer plädiert für die Gesamtschule.

Denn die Kinder der neuen Unterschicht seien nicht einfach dumm und ohne Eigeninitiative. Aber sie würden nicht gefördert und könnten ihre Fähigkeiten nicht entwickeln. Deshalb müssten gerade in den schlechtesten Stadtvierteln die besten Schulen stehen, zitiert die Autorin den Soziologen Hans Bertram. Schließlich sei eine der sichersten Methoden, ein Land herunterzuwirtschaften, sich nicht ausreichend um die Bildung der Bürger zu kümmern, warnt Kloepfer.

Verschwendete Potenziale

Die ethische Katastrophe interessiert offenbar kaum. Kloepfer führt deshalb ökonomische Argumente an: "Jeder fünfte Jugendliche wird auf Dauer nicht produktiv und damit ökonomisch gesehen überflüssig sein."

Eine derartige Verschwendung von Fähigkeiten - von "Humankapital" - kann Deutschland sich nicht leisten: in Anbetracht der demographischen Entwicklung nicht, und im Hinblick auf die aktuelle Finanzsituation schon gar nicht! Um das zu akzeptieren, brauche es noch nicht einmal Mitgefühl mit Jascha, unterstreicht Kloepfer. Ein gesunder Egoismus reiche bereits aus.

345 Euro Sedativum
Jaschas Zukunft heißt "Hartz IV". "Die Gesellschaft will ihn nicht, die Wirtschaft braucht ihn nicht. Mit einer Wohnung und 345 Euro ist er endlich ruhig gestellt", analysiert Kloepfer. Und letztlich hat er die auch nur bekommen, weil er mit seiner Mutter und später im Heim und in der betreuten WG nicht klarkam. Die Biographien der "Bildungsverlierer" führen weder ins Erwerbsleben noch in die Gesellschaft. Die öffentliche Hand zahle für das Versagen des Schulsystems, statt es zu reformieren. Für Jaschas Scheitern trägt die Gesellschaft eine Mitverantwortung, wird die Autorin deutlich.

Was, wenn Deutschland die steigenden Sozialleistungen nicht mehr finanzieren kann? Wenn die knapp 400 Euro, mit denen die Ausgeschlossenen jeden Monat ruhig gestellt werden nicht mehr da sind? Die Frustration über das ausbleibende Sedativum könnte sich auf der Straße entladen, warnt Kloepfer. Es ist also höchste Zeit, dass die Gesellschaft sich dem Problem stellt.

Was Inge Kloepfer beschreibt, ist nicht neu. Doch trägt ihre eindringliche Mischung aus Reportage und Analyse dazu bei, die Diskussion um die chancenlose Unterschicht neu zu entfachen. Sie hat Experten zu Rate gezogen und bietet Lösungsvorschläge. "Wissen, Konsens und Geld - wir verfügen über alles, was notwendig ist, um das Ruder herumzureißen. Der Skandal ist, dass trotz alledem nichts passiert", schreibt die Autorin. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Inge Kloepfer: "Aufstand der Unterschicht. Was auf uns zukommt." Hoffmann und Campe, 2008, 300 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3455500523

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