Kultur

„12 Tage“: Berührendes Manifest für eine humane Psychiatrie

Auch im Umgang mit Menschen, die an psychischen Erkrankungen leiden, entscheidet sich, wie human eine Gesellschaft ist. Der Dokumentarfilm „12 Tage“ liefert erschütternde Einblicke in ein juristisches Verfahren, das viele Fragen aufwirft.
von ohne Autor · 15. Juni 2018
„12 Tage“
„12 Tage“

In Frankreich haben Betroffene, die zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen wurden, seit einigen Jahren das Recht auf eine gerichtliche Anhörung, Und zwar nach einer Frist von zwölf Tagen. Dann überprüft ein Richter, ob die Menschen weiterhin stationär behandelt werden oder nach Hause entlassen werden. Nach offizieller Lesart wurde dieses Prozedere zum Wohl der Patienten geschaffen. Schließlich geht es darum, die Umstände ihrer Einweisung und Behandlung durch eine unabhängige Person zu untersuchen und möglicherweise neu bewerten zu lassen, also einer etwaigen ärztlichen Willkür den Boden zu entziehen.

Dramatische Schicksale

„12 Tage“, der neue Dokumentarfilm von Raymond Depardon, malt ein alles andere als idyllisches Bild von dem Verfahren hinter den Mauern einer geschlossenen psychiatrischen Klinik. Der französische Fotojournalist und Filmemacher hat sich bereits in mehreren preisgekrönten Werken mit Themen aus den Bereichen Justiz und Psychiatrie beschäftigt. In seiner neuesten Arbeit treffen beide Sphären aufeinander. Und mittendrin befinden sich die unfreiwilligen Anstaltspatienten. Und die gibt es reichlich: In Frankreich werden pro Jahr rund 90.000 Menschen gegen ihren Willen zwangseingewiesen.

Mit seinem Team filmte Depardon 72 Anhörungen in einer Lyoner Einrichtung. Zehn davon finden sich im Film wieder. Es sind zehn erschütternde Dramen gänzlich unterschiedlicher Art, wenngleich die meisten dieser Frauen und Männer nahezu sämtlicher Altersgruppen der Wunsch vereint, so schnell wie möglich entlassen zu werden. Ob ein junger Krimineller mit Wahnvorstellungen oder eine junge Frau, die mehrfach versucht hat, sich umzubringen: Oft sind es Geschichten gescheiterter Existenzen, die aber dennoch nach Selbstentfaltung streben, und sei es im Freitod.

Überraschendes Tempo

Kann man ihnen diese Möglichkeit gewähren oder sollte man sie vor sich selber schützen, ganz zu schweigen von den Interessen der Allgemeinheit? Vor dieser schwierigen Entscheidung stehen die jeweils zwei Richterinnen und Richter, die sich dabei auf ärztliche Befunde stützen, in diesem Film immer wieder. Vor diesem Hintergrund überrascht das Tempo der Anhörungen. Und die gehen nicht gerade im Sinne der Eingewiesenen aus.

Die intensive Wirkung entsteht vor allem dadurch, dass die Zuschauer nahezu ungefiltert mit den Einzelfällen konfrontiert werden. Depardon lässt eine denkbar distanzierte Erzählweise walten. So wird umso mehr Raum für die Menschen geschaffen, um die es geht. Jeweils eine Kamera ist auf Patient und Justizperson gerichtet, eine weitere nimmt die Gesamtheit der kleinen Besprechungszimmer als Totale in den Fokus. Zwischendurch gibt es Kamerafahrten durch die ebenso langen wie menschenleeren Gänge der Psychiatrie. Behutsam werden im fahlen Licht Eindrücke von einer weithin abgeschotteten Welt eingefangen.

Kleiner Ausschnitt

Gerne würde man mehr über die einzelnen Biografien erfahren, um die Krankheitsgeschichten und Richtersprüche besser einordnen zu können. „12 Tage" zeigt allerdings jeweils nur einen kleinen Ausschnitt. Das unterstreicht zugleich die Schwierigkeit, vor der die Amtspersonen bei jeder Entscheidungsfindung stehen. Zugleich entsteht dabei eine Art Psychogramm der französischen Gesellschaft. Nicht nur, aber gerade, wenn etwa ein Patient bei der Anhörung eine vergangene Gewalttat mit der Intention erklärt, seine Mitmenschen vor Terroristen schützen zu wollen.

„Der Weg zum wahrhaften Menschen führt über den Irrsinn“: Allein mit diesem Zitat des Soziologen Michel Foucault macht Depardon deutlich, dass es ihm letztendlich vor allem darum geht, ein Bewusstsein für die Bedürfnisse und Nöte und damit auch für die Menschenwürde von psychisch Kranken zu schaffen. In ebenso klaren wie kraftvollen Bildern ergibt sich ein Appell an Humanität.

Info: „12 Tage“ (Frankreich 2017), ein Film von Raymond Depardon, 86 Minuten, OmU. Jetzt im Kino.

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