Zum Weltflüchtlingstag: Migration bleibt eine Daueraufgabe
Herr Castellucci, vor sechs Jahren bezeichneten Sie die Menschen, die die Flüchtlingspolitik stark kritisierten und auf die Straße gingen als eine Minderheit, der man wieder Gehör schenken müsse, um ihre Unzufriedenheit zu stoppen. Ist das geglückt oder warum ist das Thema weniger medial präsent?
Zunächst einmal haben sich andere Themen nach vorne geschoben: Dank Greta Thunberg der Klimawandel, dann kam die Pandemie, die uns jetzt gut eineinhalb Jahre beschäftigt.
Ich glaube aber auch, dass wir etwas erreicht haben. Meine Mutter hat mich 2015 gefragt, ob jetzt jedes Jahr eine Millionen Asylbewerber kommen würden. Damals konnte ich ihr das nicht genau beantworten, habe aber gesagt, dass wir schon um der Geflüchteten selbst willen diese Zahl reduzieren müssen, denn ihre Flucht ist oftmals mit schrecklichem Leid verbunden. Das ist in gewisser Weise geglückt, allerdings nur wenn wir auf Europa schauen, nicht auf die globale Entwicklung. Die Hauptaufgaben liegen noch vor uns.
Gleichzeitig gilt es aber auch, allen Menschen das Gefühl zu geben, im Blickfeld der Politik zu sein. Als SPD wollen wir ein gutes Land für alle schaffen, in dem jeder Mensch seinen Platz hat, niemand zurückgelassen wird und wo natürlich auch jeder Respekt verdient, egal woher er kommt, an was er glaubt und welches Geschlecht er hat. Das macht Olaf Scholz gerade in seiner Wahlkampagne stark und daran arbeiten wir als Partei.
Kann sich eine Situation wie 2015 wiederholen?
In jedem Fall wären wir nun besser vorbereitet. Aber trotzdem muss man klar sagen: Wenn erneut irgendwo ein Staat zusammenfällt, dann wird auch die Zahl der Geflüchteten wieder zunehmen. Mit großer Sorge beobachten wir momentan den Truppenabzug aus Afghanistan. Wer darauf allerdings nur mit Abschreckung reagieren will, löst nichts, sondern produziert nur neues Leid.
Wir Sozialdemokraten halten da klar dagegen – die Leute lassen sich nicht durch schlechte Bedingungen bei uns abschrecken, sie kommen ja aus dem schlimmsten Elend. Diejenigen, die es bis zu uns schaffen, haben einen anständigen Umgang verdient. Wir sind ein Kontinent der Menschenrechte, das muss sich gerade gegenüber den Schwächsten zeigen. Gleichzeitig müssen wir viel engagierter dafür arbeiten, dass in den Herkunftsländern Perspektiven entstehen. Das ist eine Daueraufgabe.
Ist diese Daueraufgabe in einer Koalition mit der CDU zu lösen?
Eine progressive Flüchtlingspolitik ist mit der Union nicht zu machen.
Dennoch konnten wir als SPD einige Punkte erreichen, wie etwa Ende 2020, als wir in Deutschland zunächst 1500 zusätzliche Geflüchtete aus griechischen Lagern aufnahmen, insgesamt sind es bis jetzt knapp 3000 gewesen. Noch immer harren aber in Flüchtlingslagern auf der ganzen Welt, teilweise seit Jahren, Menschen ohne Perspektiven aus, darunter Kranke, Menschen mit Behinderung, Frauen und Kinder. Die schaffen es gar nicht erst bis auf die Boote. Wenn wir diese Schwächsten erreichen wollen, müssen die Kontingente für Umsiedlungen nach Europa erhöht werden. Derzeit haben wir dem UN-Flüchtlingswerk nur gut 5000 Plätze pro Jahr angeboten. Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein.
Weil wir aber das Thema Migration als SPD ganzheitlich denken, ist es auch wichtig, die im Auge zu behalten, die aus wirtschaftlicher Not heraus ihre Heimat verlassen. Es steht jedem Menschen zu, ein besseres Leben zu suchen, und man muss beachten, dass Menschen, die von einem besseren Leben träumen, eine enorme Energie und Willenskraft mitbringen. Für diesen Teil der Migration braucht es klare Regeln. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz haben wir hier ein gutes Beispiel in der großen Koalition durchgesetzt. Ein solches Gesetz braucht es in ganz Europa.
Im vergangenen Jahr ist das Thema Migration und Flucht besonders mit dem abgebrannten Flüchtlingscamp Moria auf Lesbos in den Fokus gerückt. Inwieweit hat sich die Lage der Geflüchteten in Griechenland, etwa im Camp Kara Tepe verbessert?
Wir wollen die Aufnahme von Geflüchteten aus Griechenland weiter fortsetzen in einer Größenordnung, in der Gemeinden in Deutschland sich bereit erklären, weiter Menschen aufzunehmen. Immerhin 250 Kommunen haben sich bereits zusammengeschlossen und ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärt, weitere Geflüchtete willkommen zu heißen. Jetzt, wo uns Corona voraussichtlich bald weniger belasten wird, gilt es nachzufragen, in welcher Größenordnung das möglich ist und die Aufnahme gemeinsam mit unseren europäischen Partnern fortzusetzen.
Insgesamt kann man sagen, dass sich schon jetzt die Situation auf den griechischen Inseln verbessert hat, wenn man bedenkt, dass zu Hochzeiten 44.000 Geflüchtete auf 200.000 Einwohner*innen kamen. Heute sind es noch etwa 10.000 Geflüchtete. Bei meinem Besuch vor Ort habe ich Anfang 2020 gesehen, dass viele Menschen in den Lagern etwa einen kleinen Stand eröffnet oder sogar Schulen für die Kinder gegründet hatten. Was durch den Brand in Moria leider verschlechtert wurde, ist beispielsweise die Bewegungsfreiheit der Geflüchteten und die Möglichkeit, sich selbst zu organisieren. Ob das neue Zentrum bis Winter fertiggestellt werden kann, steht in den Sternen. Und auf dem Festland bleiben anerkannte Geflüchtete oft ohne jede weitere Unterstützung. Die europäische Flüchtlingspolitik bleibt eine Baustelle.
Sie sitzen im Bundestagsausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe. Inwiefern können solche Projekte in einem Ausschuss realisiert werden, in dem auch AfD-Politiker*innen sitzen?
Die AfD muss man da außen vor lassen, aber in diesem Ausschuss sitzen auch Unionspolitiker*innen, die angesichts der Lage großen Willen zur Hilfe zeigen. Ich sitze aber auch im Innenausschuss und da werden die Regeln zur Aufnahme Geflüchteter hauptsächlich verhandelt. Die Unionspolitiker*innen dort zeigen leider ein ganz anderes Verhalten und blockieren alles, was von der SPD, aber auch parteiübergreifend oder aus der Zivilgesellschaft vorgeschlagen wird, um die Lage der Geflüchteten zu verbessern.
In welcher Koalition nach der Bundestagswahl könnte Flüchtlingspolitik neu gestaltet werden?
Ich setze auf ein progressives Bündnis. Das wird auch nicht alle Probleme dieser Welt aus Deutschland heraus lösen können, aber wir würden zumindest alle unsere Kräfte mobilisieren können, dort zu helfen, wo Hilfe nötig und uns möglich ist, Menschen auf der Flucht mit Menschlichkeit und Solidarität begegnen und weiter daran arbeiten, Migration gut zu regeln, so dass sie zum Wohle aller gelingen kann - das ist nur ohne die Union möglich.