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Zehn Jahre danach: Das Gaza-Desaster nimmt seinen Lauf

2005 befahl der damalige israelische Premierminister Ariel Sharon der israelischen Armee, mit der Zwangsräumung der verbliebenen israelischen Siedlungen im Gazastreifen zu beginnen. Zehn Jahre danach hat sich die Lage vor Ort eher noch verschlechtert.
von Usama Antar · 13. August 2015
Gaza-Stadt
Gaza-Stadt

Große Zukunftsträume hatte man in Gaza mit dem israelischen Abzug aus Gaza verbunden. Eine florierende wirtschaftliche Entwicklung, freie Importe und Exporte, Bewegungsfreiheit und die Öffnung zur ganzen Welt. Wenn sie heute zurückblicken, fragen sich die Menschen in Gaza, was für ein Desaster sie seither erlebt haben. Oder besser gesagt: Wie viele Desaster sie seither erlebt haben! Niemand hatte damals damit gerechnet, dass sich die Sicherheitslage und die wirtschaftliche Entwicklung so gravierend verschlechtern würden.

Wahlsieg der Hamas führte zur Isolation des Gaza-Streifens

Schon kurz nach dem Abzug der Siedler gewann Hamas Anfang 2006 die Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat und stellte die Regierung in Gaza. Die Weltgemeinschaft verweigerte daraufhin der neuen Regierung die Kooperation, da Hamas die Bedingungen des Nahost-Quartetts für die Aufnahme von Beziehungen (Anerkennung des Staates Israel, Achtung der bestehenden Verträge, Gewaltverzicht) ablehnte. Israel nahm die Position der Hamas zum Anlass, eine Blockade über den Gazastreifen zu verhängen. Hamas unternahm keinerlei diplomatische Bemühungen, um der Weltgemeinschaft zu zeigen, dass sie eine pragmatische Richtung einschlagen wolle. Stattdessen ließ die islamische Bewegung sich auf blutige interne Auseinandersetzungen mit der rivalisierenden Fatah-Bewegung ein und übernahm die Macht im Gazastreifen mit Gewalt.

Das Elend der dort lebenden Palästinenser ging weiter, als die israelische Armee innerhalb der folgenden sechs Jahre als Reaktion auf palästinensische Provokationen mehrfach intervenierte und insgesamt drei Kriege führte, was über 4000 Todesopfer forderte und zehntausende Wohnhäuser, Betriebe und öffentliche Infrastruktur zerstörte. Mittlerweile sagen viele ironisch: „Wir wünschen uns, dass die Besatzung zurückkehrt. Damals gab es keine Blockade, und keine fehlenden Güter oder Dienstleistungen, und man konnte viel leichter reisen. Heute fehlen die einfachen Grundrechte zum Leben“.

Gaza - die am schlechtesten entwickelte Volkswirtschaft der Welt

Es klingt ironisch, aber es ist wahr. Zehn Jahre nach dem israelischen Abzug ist Gaza nicht frei, sondern steht unter Blockade. Die Statistiken der internationalen Organisationen, wie der Weltbank, legen im wahrsten Sinne des Wortes ein Armutszeugnis ab: Gazas Wirtschaft liegt trotz des hohen Potentials am Boden und gilt als die am schlechtesten entwickelte Volkswirtschaft der Welt. Gaza hat mit 47 Prozent eine der höchsten Arbeitslosenquoten der Welt, 68 Prozent der jungen Menschen haben keine Arbeit, und die Armutsrate liegt bei über 80 Prozent. Für den Wiederaufbau der wiederholt zerstörten Wohnhäuser und Einrichtungen würde Gaza mehr als zehn Jahre benötigen, wenn die Blockade heute aufgehoben würde.

Zudem sind die Grenzübergänge nach Israel fast komplett geschlossen – nur weniger als einem Prozent der gesamten Bevölkerung von 1,8 Millionen Menschen ist es erlaubt, den israelischen Grenzübergang zu überqueren. Seit mehr als acht Jahren existieren in Gaza weder eine funktionierende Wasserversorgung noch eine stabile Stromversorgung. Man wäre schon froh, wenn man zuhause acht Stunden pro Tag Strom bekäme. Ein UN Bericht vom August 2012 warnte davor, dass der Gazastreifen vom Jahr 2020 an kein geeigneter Ort zum Leben mehr sein werde, wenn es beim Status Quo bleibe. Mit einfachen Worten: Gaza wird durch regelmäßige gewaltsame Auseinandersetzungen immer wieder in die Vergangenheit zurück geworfen und nachhaltige Entwicklungsperspektiven bleiben versperrt.

Desaster von Gaza ist das Werk aller Beteiligten

Keine Frage, die desolate Lage in Gaza ist ein von Menschen gemachtes Desaster. Zwar hat sich die israelische Armee im Jahr 2005 hinter die Grenze des Gazastreifens zurückgezogen. Sie hat aber nicht die Kontrolle über das Leben der Menschen dort abgegeben. Israel kontrolliert immer noch die See- und Landgrenzen sowie den Luftraum und damit weiterhin Importe und Exporte von Waren und Gütern und die Ein- und Ausreise von Personen. Doch nicht nur Israel ist für die schwierige Lage verantwortlich. Hamas mit ihrer starrsinnigen, verantwortungslosen Position, die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah mit ihrer Ignoranz der Probleme der Palästinenser in Gaza, und Ägypten, das den einzigen Grenzübergang in die arabische Welt seit Jahren mit wenigen unberechenbaren Ausnahmen geschlossen hält, haben zu der jetzigen Misere beigetragen.

Leider muss man zugeben, dass der Gazastreifen zum fruchtbaren Boden für Radikalismus geworden ist. Es dürfen aber nicht pauschal alle Menschen in Gaza als radikal verurteilt werden. Die überwältige Mehrheit ist gut gebildet, besitzt politisch pragmatische Einstellungen und möchte in Frieden mit Israel leben, wie Meinungsumfragen belegen.

Die hier abgebildete Meinung spiegelt die persönliche Ansicht des Autors wieder.

Lesen Sie auch den Beitrag unseres Gastautoren Rafael Seligmann zum Abzug Israels aus Gaza

Autor*in
Usama Antar

ist Programm-Manager der Friedrich-Ebert-Stiftung in Gaza-Stadt.

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