Zehn Jahre Arabischer Frühling: Frustration und Wandel in Tunesien
Felix Zahn/photothek.net
Es begann mit einer Banalität des Diktaturalltags: Zum wiederholten Male beschlagnahmte am 17. Dezember 2010 eine Polizistin den Stand des jungen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi, weil dieser keine gültige Verkaufslizenz vorweisen konnte. Bouazizi war solche Schikanen gewohnt, doch dieses eine Mal war zu viel. Bouazizi übergoss sich mit Benzin und entzündete sich selbst vor der Gemeindeverwaltung seiner verarmten Geburtsstadt Sidi Bouzid.
So etwas geschah nicht zum ersten Mal – und kein Mensch außerhalb Tunesiens hätte unter normalen Umständen hiervon jemals etwas mitbekommen. Doch es kam anders. Die Erfahrungen Bouazizis mit Willkür, Ungerechtigkeit, Perspektiv- und Chancenlosigkeit, die ihn in den Selbstmord trieben, wurden von so vielen Tunesier*innen geteilt, dass sofort ein Sturm der Entrüstung das Land erfasste. Vier Wochen nach Bouazizis Selbstentzündung und zehn Tage nach seinem Tod sah sich der Langzeitdiktator Zine El-Abidine Ben Ali gezwungen, aus Tunesien zu fliehen. Es folgten turbulente Jahre, in denen das Land mit einer tiefen Wirtschaftskrise, Terrorismus und den Folgen regionaler Verwerfungen zu kämpfen hatte; aber eben auch Jahre, in denen das Land sich eine fortschrittliche Verfassung gab, sechs freie und faire landesweite Wahlen organisierte und in denen das tunesische nationale Dialogquartett unter Führung des Gewerkschaftsbunds UGTT mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Ist die Geschichte der tunesischen Demokratie damit eine Erfolgsgeschichte?
Die wenigsten Tunesier*innen würden dies heute uneingeschränkt so sehen. Es ist offenkundig, dass die anfängliche Euphorie längst Frustration und Enttäuschung gewichen ist. Die wirtschaftlichen Kennzahlen weisen nach unten, Arbeitslosigkeit und Kaufkraftverlust bestimmen den Alltag vieler Menschen. Der durch Unruhen und terroristische Anschläge immer wieder arg zugesetzten Tourismusindustrie, von der rund 20 Prozent der Tunesier*innen wirtschaftlich abhängen, wurde durch die COVID-19-Pandemie irreparabler Schaden zugefügt. Vor der Pandemie befand sich die Wirtschaft in der Krise, nun droht die Katastrophe. Bis zu 70 Prozent der tunesischen Unternehmen sehen sich akut von Insolvenz bedroht. Gleiches gilt für den Staat: Ohne neue Kredite droht Tunesien bereits 2021 die Zahlungsunfähigkeit.
Vor Tunesien liegt also schon wieder ein Kraftakt. Ob die Menschen aber bereit sind, diesen auf sich zu nehmen, ist zweifelhaft. Aktuelle Umfragen belegen, dass insbesondere junge Menschen den Institutionen nicht vertrauen. Ganz gleich ob Regierung oder Parlament, Parteien oder Polizei. Nach Jahren ergebnisloser Grabenkämpfe befindet sich die politische Klasse Tunesiens in einer allumfassenden Krise. Der Anteil junger Menschen, die das Land verlassen wollen, ist so hoch wie in kaum einem anderen Land.
Wie konnte es soweit kommen?
Um sich einer Erklärung zu nähern, lohnt noch einmal der Blick zurück auf den Beginn der Revolution. Heute ist diese Episode zur historischen Anekdote verkommen, doch wichtige Elemente strukturieren immer noch die tunesische Politik und Wirtschaft. Wie jede Diktatur teilte auch das System Ben Ali die Bevölkerung in zwei Gruppen ein: eine privilegierte Gruppe derer, die über die Verteilung von wirtschaftlichen Ressourcen und Machtmitteln entscheiden durften auf der einen Seite, und diejenigen, die sich zu fügen hatten, auf der anderen. Ein ausgeklügeltes System von Vettern- und Vorzugswirtschaft sicherte über ein Netzwerk komplexer Lizenzierungen, Pflichtenkataloge und sonstigen Vorschriften den mächtigsten Familien des Landes Einkommen ohne Gegenleistung. Diese „Rentenökonomie“ prägt das Land bis heute. Mohamed Bouazizi besaß keine Verkaufslizenz, weil er keinen Zugang zu den Oligarchen des Landes hatte. Wie sehr er sich auch anstrengte, er kam nicht voran.
Das gleiche Gefühl der Frustration des Ausgeliefertseins, des ständigen Anrennens gegen systeminhärente Widerstände, gegen gläserne Decken und undurchsichtige Strukturen prägt auch zehn Jahre nach der Revolution die Lebenswelten der jungen Generation Tunesiens. Zunehmend verlieren junge Menschen den Glauben daran, die bestehende Verhältnisse unter den gegebenen Rahmenbedingungen ändern zu können. Sie waren es, die 2019 mit Kais Saied einen dezidierten Anti-Establishment-Kandidaten zum Präsidenten wählten.
Präsident hält Parteien für anachronistisch
Kais Saied hält viel von sozialer Gerechtigkeit, aber wenig von repräsentativer Demokratie. Parteien seien anachronistisch, dem Tode geweiht. Tunesien brauche ein System direkter Volksdemokratie, vorzugsweise mit ihm selbst an der Spitze. Seine Ideen sind so radikal wie populär. Die Energie seiner Anhänger*innen zu kanalisieren und zum Aufbau der Demokratie und zum Aufbrechen der Rentenökonomie zu nutzen wird über den weiteren Verlauf der demokratischen Transformation Tunesiens entscheiden. Die ungebrochene Unterstützung der Positionen Saieds macht deutlich: Einen Weg zurück zur Diktatur darf und wird es in Tunesien nicht geben. Aber ein „Weiter so“ eben auch nicht.
Die Entwicklung von Demokratie braucht Zeit. Es ist absehbar, dass Deutschland und Europa Tunesien noch auf längere Sicht unterstützen müssen. Der politische Wille hierzu steht glücklicherweise nicht zur Debatte. Gleichzeitig wäre es ein echtes Zeichen von Solidarität, auf die jungen Menschen in Tunesien zu hören: Der Wandel, der vor zehn Jahren den Diktator hinwegfegte, muss endlich auch die wirtschaftlichen und politischen Kartelle aufbrechen. Nur so kann es gelingen, die Generation der Revolution langfristig auf das demokratische Projekt zu verpflichten.