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Wieczorek-Zeul: „Ruhestand kann frau sich überhaupt nicht erlauben“

Heute feiert Heidemarie Wieczorek-Zeul ihren 80. Geburtstag. Elf Jahre war sie Entwicklungsministerin und spricht im gemeinsamen Interview mit ihrer Nachfolgerin Svenja Schulze darüber, was eine sozialdemokratische Entwicklungspolitik auszeichnet.
von Jonas Jordan · 18. November 2022
Weiter engagiert: Heidemarie Wieczorek-Zeul bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung im März 2022.
Weiter engagiert: Heidemarie Wieczorek-Zeul bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung im März 2022.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, wie war Ihre Reaktion, als Sie erfahren haben, dass das Entwicklungsministerium wieder sozialdemokratisch geführt wird?

Wieczorek-Zeul: Das fand ich wunderbar. Ich fand es gut, dass das Entwicklungsministerium gestärkt erhalten geblieben ist. Mit Svenja, eine sozialdemokratische Ministerin, das war für mich eine große Freude und ist es nach wie vor.

Svenja Schulze, wie ist es, in Heidemarie Wieczorek-Zeuls Fußstapfen zu treten?

Schulze: Das sind große Fußstapfen. Was Heidis Zeit auszeichnete, ist, das Gegenüber ernst zu nehmen, mit Partnerländern auf Augenhöhe zu arbeiten. Der erste Schuldenerlass ist mit Heidi verbunden. Auch die Gründung des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria ist stark mit ihr verbunden. Frauenrechte und natürlich die Friedenspolitik verbinde ich mit der „roten Heidi“.

Wieczorek-Zeul: Wie ich zu sagen pflegte: Besser rot als blass! Das gilt auch heute noch. Ich habe versucht, die Entwicklungspolitik so zu orientieren, dass ich die Globalisierung versucht habe, sozial, ökologisch, ökonomisch, aber auch politisch zu gestalten.

Schulze: Heidi, von dir ist der Begriff „globale Strukturpolitik“. Du hast gezeigt, dass das, was wir in Deutschland an Veränderungen haben auch international und speziell für die Partner im globalen Süden eine Herausforderung ist. Unter schwierigeren Bedingungen mit den viel stärkeren Auswirkungen der Klimakrise.

Wieczorek-Zeul: Heute existiert die Gefahr einer neuen Blockbildung. Es gibt die Versuche, manche Länder in eine Ecke zu schieben. Mich erinnert das an die Memoiren von Hans-Jürgen Wischnewski. Da kann man nachlesen, dass er als Entwicklungsminister den Auftrag hatte, in der Welt zu reisen und den Ländern, die die DDR nicht anerkannten, Mittel der Entwicklungshilfe zuzusagen. Diese Blockbildung gilt es zu verhindern. Wir werden die Nachhaltigkeitsziele, die wir seit 2015 als Leitlinien für global gerechte Gestaltung haben, nur erreichen, wenn wir die Länder des globalen Südens miteinbeziehen.

Schulze: Wir können die Klimakrise nur gemeinsam lösen. Wir müssen global zusammenarbeiten. In der Frage des Klimaschutzes auch mit China, auch wenn wir in Handelsfragen unabhängiger werden wollen. Diese Fähigkeit, Allianzen zu schmieden, Netzwerke zu knüpfen, langjährige Partnerschaften aufzubauen – du hast das damals als Stärkung des Multilateralismus bezeichnet – ist wieder die Herausforderung.

Wieczorek-Zeul: Die Länder des globalen Südens, mittlerweile 60 Prozent der schwächeren Entwicklungsländer, sind bedroht durch ihre Schuldensituation. Und wir werden die Länder nur mit einbeziehen können, wenn wir unsere Zusagen einhalten, die wir gemacht haben in Bezug auf die Klimapolitik, in Bezug auf die globale Gesundheitspolitik. Der Haushalt für 2023 spiegelt die globalen Verpflichtungen nicht ausreichend wider. Wir dürfen nicht nur militärisch wehrhaft sein. Wir müssen auch wehrhaft sein gegen Pandemien. Wir müssen wehrhaft sein gegen Armut, gegen Klimawandel und gegen Ungleichheit und Benachteiligung von Frauen.

Deutschland hat sich verpflichtet, mindestens 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit auszugeben. Momentan sind es 0,74 Prozent.  Wie lässt sich sicherstellen, dass das auch in den nächsten Jahren so bleibt?

Schulze: Die Anzahl der Krisen hat sich potenziert und auch der Bedarf nach Mitteln. Der deutsche Etat funktioniert nach der Logik: Die Krise ist vorbei, die Schuldenbremse zieht wieder und es ist alles wie vor der Krise. International ist nichts wie vor Covid. Es ist eine dramatische Situation, die gerade noch dadurch verschärft wird, dass Putins Angriff auf die Ukraine eine weltweite Hungerkatastrophe auszulösen droht. Wenn wir jetzt nicht Ländern helfen, Lebensmittel selbst anzubauen, wird das nur dazu führen, dass wir in der nächsten Hungerkatastrophe wieder humanitär helfen müssen. Dasselbe gilt für die globale Energiewende.

Wieczorek-Zeul: Schon mit Rot-Grün haben wir versucht, Veränderungen in Richtung erneuerbare Energien anzustoßen, den Kampf gegen den Klimawandel zu forcieren. Das war damals schwierig. Wir haben versucht, in der Weltbank Veränderungen in der Richtung hinzubekommen. Ich habe mit Freude gesehen, dass du größeren Schwung genommen hast, um die Weltbank zu einer Institution zu machen, die Armut bekämpft, aber auch Nachhaltigkeit als Hauptziel hat.

 Vor 20 Jahren haben wir den Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV, Aids, Malaria und Tuberkulose in Gang gesetzt. Er hat bisher 50 Millionen Menschenleben gerettet. Dass ihr als Entwicklungsministerium 1,3 Milliarden Euro für die nächsten drei Jahre zur Finanzierung dieses wichtigen Fonds zugesagt habt, finde ich hoch anerkennenswert.  Denn es geht in den nächsten drei Jahre darum, 20 Millionen Menschenleben zu retten, die auch durch Rückfälle bei HIV/Aids, bei Malaria, bei Tuberkulose gefährdet sind. Millionen Menschen sterben einen stillen Tod, weil wir nicht helfen, sie zu retten. Das müssen wir immer wieder ins Bewusstsein bringen. Es gibt nichts Wichtigeres, als diese Menschenleben zu retten.

Schulze: Eigentlich müsste die Welt durch die Corona-Pandemie verstanden haben, dass wir alle nicht sicher sein können, wenn wir nicht überall Gesundheitssysteme und Prävention ermöglichen. Hier ist auch bereits viel passiert, aber es bedarf weiterer Unterstützung. Eine meiner ersten Entscheidungen als Entwicklungsministerin war, die Stärkung der Gesundheitssysteme wieder in unser bilaterales Portfolio aufzunehmen.

Soziale Sicherheit geht aber über Gesundheitsdienstleistungen hinaus. Mehr als die Hälfte der Menschen auf der Welt hat gar keinen Zugang zu sozialen Sicherungssystemen. Wir brauchen solche Sicherungssysteme, um in den Ländern dafür zu sorgen, dass nicht jeder Schock die Leute wieder in Hunger und Armut reißt. Wenn eine kleine Bäuerin ihre Ernte verliert, weil hitzebedingt Dürre kommt und alles zerstört, muss es ein soziales Sicherungssystem geben, das sie auffängt, damit sie nicht in Armut rutscht, damit sie die Landwirtschaft weiterführen kann.

Wie wichtig ist eine feministische Entwicklungspolitik gerade im aktuellen Krisenkontext?

Schulze: Frauen sind nicht nur Opfer der Verhältnisse. Sie sind nicht nur diejenigen, die unter Gewalt leiden. Dort, wo Frauen an Friedensverhandlungen beteiligt werden, sind diese Ergebnisse deutlich stabiler. Dort, wo Frauen die gleichen Rechte wie Männer haben, wo sie stärker an der Gesellschaft beteiligt werden, Bildungszugang haben, gleiche Rechte haben, sind die Gesellschaften stabiler, entwickeln sich besser weiter.

Frauen sind Leistungsträgerinnen in vielen Gesellschaften, sind Wissensträgerinnen in den Gesellschaften. Deswegen müssen wir in der Entwicklungszusammenarbeit darauf achten, dass wir auch Frauen adressieren. Das passiert in vielen Fällen nicht. Sie sitzen nicht am Tisch. Sie haben nicht die gleichen Rechte. Sie kriegen nicht die gleichen Ressourcen. So wird man eine Gesellschaft nicht nach vorne entwickelt bekommen. Deswegen will ich das ändern und lege darauf einen großen Schwerpunkt in meiner Arbeit. Das hat Heidi auch schon gemacht.

Wieczorek-Zeul: Ich habe versucht, die Frage der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen in den Mittelpunkt zu rücken. Selbst in den Industrieländern im Zeichen wachsenden Rechtsextremismus geht es immer wieder an die Frauenrechte. Es gibt auch bei uns Benachteiligung von Frauen, die sich real auswirkt. Da dranzubleiben ist zentral. Das werde ich mein ganzes Leben nie aus dem Auge verlieren.

Schulze: Das zeichnet dich als Sozialdemokratin aus. Wir bleiben einfach dran.

Wieczorek-Zeul: Wir hoffen auch noch auf ein paar männliche Feministen.

Schulze: Olaf Scholz hat gesagt, dass er Feminist ist.

Wie wichtig ist es, dass es in Deutschland ein eigenes Entwicklungsministerium gibt?

Schulze: Wenn wir in der Welt vernetzt sein, gegen die Blockbildung vorgehen und weiter Partnerschaften aufbauen wollen, brauchen wir ein Ministerium, das sich darum kümmert und keine Unterabteilung des Außenministeriums sein kann.

Wieczorek-Zeul: Das BMZ, dieses Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, ist ein Alleinstellungsmerkmal, das es zu erhalten und auszubauen gilt – ganz, ganz wichtig. Es ist als einziges Entwicklungsministerium für die Weltbank zuständig.

Schulze: Das kann ich nur unterschreiben. Dieser internationale Blick und diese internationale Solidarität sind auch in der DNA der SPD. Wir wissen ganz genau, dass es nicht mit humanitärer schneller Hilfe getan ist, sondern man längerfristig helfen muss, Strukturen aufzubauen; längerfristig helfen, dass Länder selbständiger, resilienter, unabhängiger werden.

Welche Auswirkungen hat der Krieg in der Ukraine auf die deutsche Entwicklungszusammenarbeit?

Schulze: Durch den Krieg wird für viele Länder des globalen Südens die starke Abhängigkeit von Weizenlieferungen aus der Ukraine und aus Russland deutlich. Gerade bei den armen Ländern im globalen Süden, wo Menschen 70 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel und Energie ausgeben, erleben wir die dramatischen Auswirkungen von Inflation, steigenden Energiepreisen und erhöhten Energiekosten. Das führt dazu, dass mehr Menschen wieder in Armut fallen und hungern. Deswegen hat Deutschland das Bündnis für globale Ernährungssicherheit auf den Weg gebracht, um die Hilfen besser zu koordinieren, um schneller zu sein in der humanitären, unmittelbaren Hilfe, aber auch, um die langfristige Unterstützung besser zu koordinieren.

Ist die aktuelle Situation eine Mahnung, die Beziehungen zwischen Europa und dem Nachbarkontinent Afrika weiter zu stärken?

Schulze: Es ist eine Mahnung, dass man international zusammenarbeiten muss. Das heißt nicht, dass die Globalisierung beendet ist, sondern dass wir einseitige Abhängigkeiten stärker hinterfragen müssen.

Wieczorek-Zeul: Unsere Kontinente liegen zwölf Meilen auseinander. Da gibt es viele Möglichkeiten zur Zusammenarbeit, insbesondere mit Blick auf erneuerbare Energien. Das, was der European Green Deal auf EU-Ebene beinhaltet, sollten wir auch mit der Afrikanischen Union auf Augenhöhe abstimmen.

Zugleich müssen wir uns zu unserer historischen Schuld bekennen. Ich habe im Jahr 2004 – 100 Jahre nach dem Völkermord an den Herero und an den Nama durch die deutschen Truppen – zum ersten Mal den Begriff „Völkermord“ verwandt und um Vergebung unserer Schuld gebeten. Ich möchte es noch erleben, dass Bundespräsident Steinmeier nach Namibia reist und dort diese historische Schuld Deutschlands am Völkermord eingesteht und damit auch ein Signal gegen den Kolonialismus in Afrika setzt, aber auch ein Signal für das historische Bewusstsein in unserem eigenen Land.

Sie feiern Ihren 80. Geburtstag und sind weiterhin vielfältig engagiert, in der SPD und für die Entwicklungszusammenarbeit. Was treibt Sie an?

Wieczorek-Zeul: Ruhestand kann frau sich überhaupt nicht erlauben angesichts der Situation in der Welt. Ich bin nie in einem politischen Amt gewesen, weil ich die Funktion wollte, sondern ich habe mich für Ziele engagiert. Und die Ziele sind nach wie vor wichtig, um die es sich zu streiten lohnt. Solange ich das körperlich machen kann, mache ich das entschlossen.

Für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wünsche ich mir, dass sie ihre Eigenständigkeit erhält, dazu beiträgt, globale Strukturen zu verändern und wehrhaft bleibt gegen Pandemie, gegen Armut, gegen Klimawandel, in den Zeiten, in denen alle nur auf militärische Wehrhaftigkeit gucken.

Was ist mit Blick auf die verbleibende Legislaturperiode Ihr Herzensprojekt in der Entwicklungszusammenarbeit?

Schulze: Das ist leider nicht nur eines. Der Kampf gegen Armut und Hunger muss weitergehen. Wir müssen Gesundheitssysteme aufbauen, um präventiv mit der nächsten Pandemie umgehen zu können. Die feministische Entwicklungspolitik ist ein zentrales Thema für mich, an dem ich weiterarbeiten werde. Und dann die Frage der just transition: Wir erleben Klimawandel und wir erleben auch, was das mit den Menschen macht. Das stärker in den Fokus zu nehmen, ist ganz zentral.

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Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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