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Wie unsere europäischen Nachbarn das Desaster in Thüringen sehen

Dammbruch, Erdbeben, Tabubruch, Blitz – während in Italien die Presse eine klare Position zum Wahl-Eklat in Thüringen bezog, löste die Ministerpräsidentenwahl Kemmerichs mit den Stimmen der AfD in Polen keinen Faschismus-Alarm aus. Auch in Schweden und Belgien gab es unterschiedliche Reaktionen.
von Ernst Hillebrand · 11. Februar 2020
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Italien: Beispielloser Vorgang in deutscher Nachkriegsgeschichte

von Tobias Mörschel, Leiter des FES-Büros in Rom
 
Über die Thüringer Ereignisse wurde in der Presse mehrfach berichtet, meistens eher kurz, aber in der Sache bestimmt. Die Wahl des Ministerpräsidenten Kemmerich mit den Stimmen von AfD, CDU und FDP wurde als Dammbruch („La Stampa“), Erdbeben („Il fatto Quotidiano“), Tabubruch („La Repubblica“) bzw. „Blitz“ (sic) der Rechtsextremen („Corriere della Sera“) bezeichnet. Eine Säule der deutschen Nachkriegsordnung und Demokratie sei eingerissen worden, so „La Stampa“, die Wahl brächte nicht nur die CDU in schwere Verlegenheit, sondern für ganz Deutschland sei es ein Trauma, dass wenige Tage nach dem Gedenken an den 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz die Partei von Adenauer, Kohl und Merkel die Allianz mit den Rechtsextremisten der AfD wage.

Der Tabubruch von FDP und CDU – so weiter „La Stampa“ – sei ein beispielloser Vorgang in der deutschen Nachkriegsgeschichte und eine Ohrfeige ins Gesicht der deutschen Demokratie. In historischer Perspektive verweist „La Repubblica“ darauf, dass 1930 in Thüringen erstmals die NSDAP mit Hilfe der Konservativen an die Macht kam, und wie Hindenburg einst Hitler unterschätzte. Durch die Wahl Kemmerichs sei enormer Schaden entstanden, so „La Repubblica“, und die Kanzlerschaft Merkels werde immer auch damit verbunden sein. Merkel und auch Kramp-Karrenbauer hätten den Aufstieg der AfD im Osten zu lange ignoriert. „Il Fatto Quotidiano“ ist der Ansicht, dass Angela Merkel die Affäre wohl überstanden habe, betrachtet den Schaden durch den „Dammbruch“ (sic) jedoch als immens. Der „Corriere della Sera“ weist darauf hin, dass Angela Merkel, obgleich sie die Angelegenheit zur „Chefsache“ (sic) erklärt habe, die Krise nicht zu lösen vermocht habe und die Forderungen nach Neuwahlen in Thüringen die Spaltung zwischen Bund und den ostdeutschen Bundesländern vertiefen würden.

Die Handlungsfähigkeit der Regierung und die Stabilität der Koalition werden allerdings in der Berichterstattung nicht in Abrede gestellt. Gemäß dem „Corriere della Sera“ ist auch das Wahlrecht eine der Ursachen für die Thüringer Wirren: Nicht die Wähler, sondern die Parteien würden auf Basis von intransparenten Verhandlungen entscheiden, wer letztendlich die Macht übernimmt. Die Lehre für alle aus Thüringen sei daher, darüber nachzudenken, ob die Entscheidung, nicht die Wähler bestimmen zu lassen, wer regieren soll, im Grunde die Demokratie schädigt, in Deutschland wie in Italien. Und in der Tat ist die Frage der Direktwahl des Ministerpräsidenten schon des längeren ein Thema in der deutschen Politikwissenschaft, das es bislang noch nicht in den politischen Diskurs geschafft hat – aber nach Thüringen mag sich auch hieran etwas ändern.
 

Polen: Beginn eines schwierigen Weges für die CDU

von Ernst Hillebrand, Leiter des FES-Büros in Warschau
 
Am Nachmittag des fünften Februar wurde in Polen kein Faschismus-Alarm ausgerufen. Die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen hat in Polen nur geringes Interesse ausgelöst. Aber immerhin wurde überhaupt darüber berichtet – keine Selbstverständlichkeit in einem Land mit wenig Auslandsberichterstattung. Die zwischen Links- und Wirtschaftsliberalismus schwankende „Gazeta Wyborcza“ brachte erst am Samstag einen Artikel, der im Wesentlichen die deutsche Debatte aus liberaler Perspektive schilderte. Die bürgerlich-konservative „Rzesczpospolita“ hatte schon einen Tag zuvor einen Artikel im Blatt. Dieser verwies ebenfalls darauf, dass nicht nur die Wahl, sondern auch der erzwungene Rücktritt Kemmerichs problematisch für die Demokratie sei.

Einer der bekanntesten politischen Kommentatoren des Landes, der konservative Politologe Marek Cichocki, analysiert in derselben Zeitung die Ereignisse als Beginn eines schwierigen Weges für die CDU. Dies sei die Partei, von der die Zukunft des deutschen Parteiensystems im Wesentlichen abhinge. Die CDU, das zeigten die Ereignisse in Thüringen, stünde vor einer grundlegenden Wahl: entweder weiter auf Merkel-Kurs oder aber Erneuerung nach Vorbild des österreichischen Kanzlers Sebastian Kurz.

Ein Bezug auf die Beziehungen zu Polen, zur Rolle Deutschlands in Europa oder eine Schilderung als Beginn von Entwicklungen, die Polen zu fürchten hätte, war in keinem der Artikel zu finden. Innerdeutsche Angelegenheiten sozusagen. Kürzere Beiträge gab es in einigen Online-Portalen, aber ein Aufregerthema waren die Ereignisse in Thüringen nicht. Das Ende des Impeachments von Trump und der mögliche Ausbruch einer globalen Virus-Epidemie in China sind den polnischen Medien klar wichtiger. Generell hat das Land eigene Prioritäten: Die Justizreformen der Regierung polarisieren die veröffentlichte Meinung, und im Mai stehen Präsidentschaftswahlen an, die darüber entscheiden werden, wie stabil die Prawo i Sprawiedliwość, kurz PiS (Recht und Gerechtigkeit) im Parlament wird durchregieren können. Alles Dinge, die die politisch interessierte Bevölkerung weit mehr umtreiben als die Probleme eines Regionalparlaments in Thüringen. Zumal das Gespenst des Rechtspopulismus die polnischen Wählerinnen und Wähler bekanntermaßen nicht durchgängig erschreckt: Haben sie doch erst kürzlich der mit ähnlichen Etiketten versehenen PiS wieder mit einer absoluten Mehrheit die Regierungsgeschäfte anvertraut.
 

Schweden: mit der Frage nach der eigenen Stabilität beschäftigt

von Philipp Fink, Leiter des FES-Büros in Stockholm
 
Der schwedische Blick auf die Ereignisse in Thüringen ist relativ gelassen. Zwar macht man sich schon Gedanken, was der Tabubruch für Deutschlands bedeutet, aber das Land ist eher mit der Frage nach der eigenen Stabilität beschäftigt. Die derzeitige Minderheitsregierung, bestehend aus einer rot-grünen Koalition, sieht sich zunehmendem Druck von Links und Rechts ausgesetzt. Die Schwedendemokraten können sich dabei zunehmend als Alternative zu den Regierungsparteien darstellen. Laut Umfragen haben sie die Sozialdemokraten als beliebteste Partei des Landes überholt.

Die Sozialdemokraten wiederum sehen sich ausgerechnet durch das sogenannte Januar-Abkommen von 2019 in ihren Handlungsoptionen eingeschränkt. Dieses wurde zwischen den Koalitionspartnern und den oppositionellen liberalen Parteien (Liberalen, Zentrumspartei), die die Minderheitsregierung dulden, geschlossen und umfasst mit 73 Punkten das Regierungsprogramm der derzeitigen rot-grünen Koalition. Ziel des Abkommens war es, eine Regierungsmehrheit ohne direkten oder indirekten Einfluss der Rechtspopulisten zu schmieden. Notwendig wurde es, da mit den Wahlen im Jahr 2018 keiner der politischen Blöcke eine parlamentarische Mehrheit für sich organisieren konnte. Um den Einfluss der Rechtspopulisten zu minimieren, sahen sich die Sozialdemokraten gezwungen, ihre Regierungskoalition durch die Liberalen und die Zentrumspartei dulden zu lassen.

Als Tribut muss die rot-grüne Minderheitsregierung in zentralen Bereichen (Steuerpolitik, Wohnungsbau, Arbeitsmarktpolitik) wirtschaftsliberale Politik machen, obwohl die Sozialdemokraten mit einer linken Agenda bei den Wahlen angetreten sind, um die akuten gesellschaftlichen Missstände wie die Wohnungsnot, Einkommensungleichheit und Mängel in der Gesundheitsversorgung zu beseitigen. Dies führt dazu, dass die Sozialdemokraten in der Öffentlichkeit profillos wirken. Dagegen können ausgerechnet die Schwedendemokraten, deren Einfluss mit dem Januar-Abkommen gebannt werden sollte, in der Wählergunst punkten. Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass die konservative Opposition (Moderate und Christdemokraten) das Tabu der Kooperation mit den Rechtspopulisten bricht, indem sie eine Minderheitsregierung mit Duldung der Schwedendemokraten oder gar eine Regierungskoalition mit ihnen bildet.

Das Beispiel Schweden zeigt, dass das Instrument der Minderheitsregierung nicht unbedingt das Problem ist. Im Gegenteil, die Minderheitsregierung und ihre durch Abkommen gestützte Duldung war in der Vergangenheit ein oft gewähltes Mittel, um eine zentristische Politik umzusetzen. Nun scheint dieses probate Mittel jedoch an seine Grenzen zu stoßen, da mit den Rechtspopulisten eine politische Kraft an Einfluss gewonnen hat, die die Symmetrie der etablierten politischen Parteien stört. In Deutschland könnten zukünftig ähnliche Instabilitäten drohen.
 

Belgien: „Not in our name!“

von Daniel Kopp, FES-Brüssel
 
Keine drei Stunden nach der Wahl von Thomas Kemmerich meldete sich der belgische Liberale und Obereuropäer Guy Verhofstadt über Twitter zu Wort mit einer Collage, die Björn Höcke und Adolf Hitler gegenüberstellte. Verhofstadt bezeichnete das Ergebnis als inakzeptabel: „Not in our name!“

Natürlich konnte es sich der Posterboy der flämischen Rechtsextremen, Dries van Langenhove, daraufhin nicht entgehen lassen, die AfD zu bejubeln und Verhofstadts Hitler-Vergleich als „hysterisch“ abzutun. Van Langenhove bedient hier seine eigene Agenda: Seit den letzten Wahlen am 26. Mai 2019 sitzt er für den rechtsextremen Vlaams Belang im flämischen Parlament. Ähnlich wie in Deutschland nach dem Durchbruch der AfD wird die Partei, beziehungsweise ihre Vorgängerin Vlaams Blok, schon seit 1989 durch eine schriftliche Übereinkunft aller anderen Parteien Belgiens, dem „cordon sanitaire“, von vorneherein als Koalitionspartner in jeglicher Regierung ausgeschlossen.

Laut van Langenhove und Parteichef Tom van Grieken ist das spätestens seit der letzten Wahl ein bloßer Anachronismus, der einen Großteil der flämischen Wähler ignoriere: Hier kletterte Vlaams Belang nach dem Absturz 2014 mit 5,8 Prozent in Flandern auf ganze 18,5 Prozent in der Wahl von 2019. Dementsprechend schwierig gestaltet sich – wie so üblich im föderalen System Belgiens – die Regierungsbildung: Seit 260 Tagen ist das Land nun schon ohne Regierung. Das liegt auch daran, dass die flämischen Nationalisten der Nieuw-Vlaamse Alliantie lange mit Vlaams Belang über eine mögliche Regierungskoalition auf regionaler Ebene berieten – und damit offen den „cordon sanitaire“ in Frage stellten. Schlussendlich entschiedenen sie sich dagegen, wohl wissend, dass sie sonst an keiner nationalen Regierung beteiligt sein würden.

Während der Thüringen-Skandal Schockwellen durch Deutschland sendet, muss man in Belgien von einer moderaten Reaktion. Zwar wurden sowohl die Wahl Kemmerichs als auch sein Rücktritt in den Medien aufgegriffen, größere Diskussionen ergaben sich daraus aber nicht, da auch die politischen Parteien still blieben. Das hat mit Sicherheit auch mit der zähen Regierungsbildung zu tun, in der eine Diskussion um den „cordon sanitaire“ destruktiv wirken würde. Langfristig wird man sich damit aber auseinandersetzen müssen. Die Rechtsextremen des Vlaams Belang kamen in der einzigen Umfrage seit der Wahl 2019 auf 27,3 Prozent und würden damit zur stärksten Kraft in Flandern – und Belgien – aufsteigen. Angesichts der jetzt schon kniffligen Regierungsbildung würde das die Fragmentierung der politischen Landschaft Belgiens nur weiter anfachen.
 

Dieser Beitrag erschien zuerst im ipg-journal

Autor*in
Ernst Hillebrand

war Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Polen.

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