International

Wie prekär die Lage der Syrien-Flüchtlinge wirklich ist

Jordanien, Libanon, Türkei: Bislang tragen diese Länder die Hauptlast bei der Aufnahme syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge. Nun drohen sie darunter zu kollabieren. Ein Überblick:
von Jörg Armbruster · 13. Oktober 2015
Flüchtlinge Jordanien
Flüchtlinge Jordanien

Der Strom der Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Europa und hier besonders nach Deutschland scheint nicht abreißen zu wollen. Kommen sie direkt aus dem Bürgerkriegsland Syrien, dann ist ihre Flucht leicht zu erklären. Über 300 000 Tote und ein Vielfaches an Verletzten - Zahlen, die für sich sprechen. Immer weniger Menschen haben nach viereinhalb Jahren Bürgerkrieg noch Hoffnung auf ein rasches Ende dieser systematischen Zerstörung des Landes. Egal auf welcher Seite sie leben. Sie fliehen vor Assads Faßbomben, Putins Luftangriffen genauso wie vor der Zwangsrekrutierung durch Dschihadisten und vor dem Terror des Islamischen Staats.

Jordanien: Jeder zweite Flüchtling will nach Europa

Aber auch in den Flüchtlingslagern der Nachbarstaaten Syriens macht sich immer stärkere Hoffnungslosigkeit breit. Hatten die Flüchtlinge in den ersten Kriegsjahren noch darauf gesetzt, bald zurückkehren zu können, glauben daran heute nur noch die Wenigsten. Damit nicht genug scheint vielen auch ein Ausharren in den Aufnahmeländern sinnlos. 

In Jordanien, so hat das Flüchtlingswerk der UNO, der UNHCR, ermittelt, plant jeder zweite Flüchtling seine Flucht nach Europa. 630 000 Flüchtlinge aus Syrien leben offiziell registriert im armen Wüstenstaat. Tatsächlich dürften es doppelt so viele sein; denn gezählt werden nur die Registrierten. Von denen können nur etwa 400 000 mit Lebensmitteln versorgen werden, allen anderen mußte die Hilfe in diesem Jahr gestrichen werden, da das Flüchtlingswerk völlig unterfinanziert ist. Die Folge: Keine Schulen für Kinder, reduzierte Lebensmittelhilfe, keine Hilfe für Flüchtlinge außerhalb der Lager. Kein Wunder, dass so viele ihr Heil in der Flucht nach Europa sehen, zumal Flüchtlinge in Jordanien keine Arbeitserlaubnis bekommen sondern sich mit illegalen Gelegenheitsjobs über Wasser halten müssen.

Libanon: Gleichgewicht des Landes droht zu kippen

Im Libanon sieht es nicht besser aus. Jeder vierte Bewohner des ohnehin instabilen Landes ist ein Syrer. Auch hier gilt: keine Arbeitserlaubnis, nur für die Hälfte der Kinder Schulen, Kürzung der Essensrationen durch das World Food Program, nur ein Bruchteil der Flüchtlinge lebt in geschützten Lagern. Vom Staat gibt es keine Hilfe, auch weil er fürchtet, das sensible Gleichgewicht der Religionen und Konfessionen, das der Libanon nach dem Bürgerkrieg austariert hatte, könne nachhaltig gestört werden durch den Zuzug von mehrheitlich sunnitischen Flüchtlingen.

Die politisch wie militärisch wichtigste Kraft im Land, die schiitische Hisbollah, sieht in den Sunniten ohnehin eher Feinde als Flüchtlinge, schließlich unterstützt die vom Iran finanzierte Schiitenmiliz offen den syrischen Machthaber Baschar al-Assad. Wer unter den Flüchtlingen im Libanon also Geld hat, kauft sich ein Schiffs- oder Flugzeugticket in die Türkei, um sich von dort auf den Weg nach Europa zu machen. Wer sich das nicht leisten kann, der kratzt sein Erspartes zusammen, um wenigstens einem aus der Familie die Flucht nach Europa zu ermöglichen in der Hoffnung, dass der dann nach sicherer Ankunft seine Familie nachholen kann.

Türkei: Teilweise mehr Flüchtlinge als Türken

Auch in der Türkei, einst gelobtes Land der Syrienflüchtlinge, sieht es inzwischen nicht besser aus. Fast zwei Millionen Flüchtlinge haben seit Ausbruch des Krieges hier Zuflucht gefunden. In der nahe der syrischen Grenze gelegenen Stadt Killis überstieg im August die Zahl der Flüchtlinge die der Einwohner. Aktuell kommen rund 21 Flüchtlinge auf 1000 türkische Einwohner. Zum Vergleich: Wenn Deutschland bis Jahresende tatsächlich eine Million Flüchtlinge aufgenommen haben wird, liegt das Verhältnis bei 8:1000.

Die Mitarbeiterin des Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) in der türkisch-syrischen Grenzregion, Nesrin Semen, lobt zwar in einem Interview die türkische Hilfsbereitschaft, merkt aber an: „Die Regierung zahlt Flüchtlingen rund 35 Lira pro Monat, das sind umgerechnet etwa elf Euro. Das ist selbst für türkische Verhältnisse sehr wenig Geld. Davon können die Migranten sich meist nicht einmal das Nötigste kaufen.“ Mit anderen Worten: auch hier haben Menschen gute Gründe, sich auf den gefährlichen Weg in Richtung Europa zu machen.

Fluchtursachen bekämpfen - Hilfsorganisationen unterstützen

Ein Ende der Flucht aus dem Nahen Osten in Richtung Europa ist jedenfalls erst in Sicht, wenn die Hilfsorganisationen mit genügend Geld ausgerüstet sind. Deswegen muss dringend wenigstens ein Teil der im September bewilligten 400 Millionen Eurohilfe, mit der das Auswärtige Amt Fluchtursachen bekämpfen will, in diese Region überwiesen werden. Andernfalls tritt das ein, was der Koordinator für Humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen, Yacoub Al-Hillo, prognostiziert. Er schätzt, dass bis zur Jahreswende eine weitere Million Syrer ins Ausland flüchten werden.

Autor*in
Jörg Armbruster am Stand des vorwärts-Verlags auf der Frankfurter Buchmesse.
Jörg Armbruster

war langjähriger ARD-Korrespondent für den Nahen Osten.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare