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Wie nationale Egoismen die Außenpolitik der EU demontieren

Statt gemeinsamer Außenpolitik dominiert in der EU immer stärker nationaler Egoismus. Das schwächt Europa. Ein willkommenes Geschenk für Länder wie China und die Türkei.
von Moritz Wiesenthal · 20. Juli 2020
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell (l.) mit dem türkischen Außenminister Mevlut Cavusoglu
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell (l.) mit dem türkischen Außenminister Mevlut Cavusoglu

Dass die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) an den unterschiedlichen Interessen ihrer Mitgliedstaaten krankt, ist nichts Neues. Schon in den 70er Jahren beschwerte sich der US-amerikanische Außenminister mit den berühmten Worten, Europa habe keine eigene Telefonnummer. Zwar kann sich Kissinger mittlerweile nicht mehr daran erinnern, den Satz tatsächlich gesagt zu haben – die mangelnde Kohärenz in der europäischen Außenpolitik ist heute allerdings präsenter denn je. Seit Antritt der Kommission unter Ursula von der Leyen zeigt sich dabei ein gefährlicher Doppeltrend, in dessen Rahmen sich der Anspruch der neuen Kommission mit Hochgeschwindigkeit von einer zusehends gespaltenen außenpolitischen Realität der EU entfernt.

von der Leyen startete mit ambitionierten Zielen

Dabei begann die Legislaturperiode der neuen Kommission für die Außenpolitik sogar recht aussichtsreich. Ursula von der Leyen rief eine „geopolitische Kommission“ aus, die das außenpolitische Selbstbewusstsein der Europäer stärken und die EU als globale Führungsinstanz positionieren sollte. Flankiert wurden diese Bestrebungen mit der Ernennung des erfahrenen Außenpolitikers Josep Borrell zum neuen Hohen Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Borrell, zur Zeit der Ernennung spanischer Außenminister und ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments, ist auf dem globalen Parkett für sein direktes Auftreten bekannt. Wenig überraschend waren deshalb auch die ambitionierten Ziele, die er bei Amtsantritt bekannt gab. Die EU müsse die „Sprache der Macht“ lernen und hierfür vom gesamten Potenzial ihrer verschiedensten Instrumente Gebrauch machen.

So gelungen der Anspruch klang, so misslungen war schon die interne Ausgestaltung der „geopolitischen Kommission“. Anstatt im ohnehin komplexen Institutionengefüge der EU außenpolitische Kompetenzen zu zentralisieren, um Kohärenz zu schaffen, opferte die neue Kommissionspräsidentin Entscheidungseffizienz auf dem Altar mitgliedstaatlicher Präferenzen für einzelne Kommissionsressorts. Nicht weniger als fünf Kommissare sind im neuen Kollegium für Teilgebiete der europäischen Außenpolitik verantwortlich, vom Teilgebiet für „internationale Partnerschaft“ über  „Krisenmanagement“ bis hin zum kontrovers diskutierten Ressort zur „Förderung unserer europäischen Lebensweise“.

Die EU stellt sich selbst ein Bein

Abgesehen von dieser kommissionsinternen Verantwortungsdiffusion verblieben zunächst auch die Kompetenzen zwischen der Kommission und anderen EU-Institutionen ungeklärt. Exemplarisch zeigte sich dies in der unkoordinierten Krisenkommunikation um die Tötung des iranischen Generals Soleimani, bei der EU-Ratspräsident Charles Michel in einer öffentlichen Erklärung reagierte, noch bevor von der Leyen oder Borrell sich geäußert hatten. Auch die Besuche Michels in der Türkei und in Ägypten waren offensichtlich nicht mit der Kommission abgestimmt und sorgten für Irritationen. Ein erster Sargnagel für den Anspruch eines neuen außenpolitischen Selbstbewusstseins war damit schon präzise im EU-eigenen Institutionengefüge platziert.

Als wesentlich folgenreicher erwiesen sich jedoch die Interessendivergenzen der Mitgliedstaaten, die in den Auseinandersetzungen in der unmittelbaren Nachbarschaft der EU einen neuen Rekord erreichten. Am deutlichsten offenbarte sich dies im anhaltenden Bürgerkrieg in Libyen. Trotz des medial zelebrierten Treffens mehrerer Staats- und Regierungschefs im Januar in Berlin (Berliner Prozess) ist es Frankreich und Italien bis heute nicht gelungen, ihre nationalstaatlichen Partikularinteressen einem gemeinsamen europäischen Ansatz unterzuordnen. Damit finden sich im 21. Jahrhundert zwei Gründungsstaaten der EU auf unterschiedlichen Seiten eines Stellvertreterkrieges wieder, was vor dem Anspruch der „Vereinigten Staaten von Europa“ etwa so klingt, als würden sich Florida und Kalifornien in einer Auseinandersetzung um Öl in Nicaragua bekriegen.

Libyen: Frankreich und Italien auf zwei Seiten

Die Talsohle im europäischen Umgang mit dem seit 2014 andauernden Krieg war damit allerdings noch nicht erreicht. Im verzweifelten Versuch, zumindest einen Minimalkompromiss in der Libyen-Krise für eine europäische Initiative zu nutzen, forcierte Borrell im März 2020 die Marineoperation Irini. Obwohl das zentrale Ziel Irinis lediglich die Umsetzung des seit 2011 verhängten UN-Waffenembargos gegen Libyen umfasst, waren dem Beschluss mehr als zwei Monate Zwist über die Ausgestaltung vorweggegangen. Einen traurigen Höhepunkt fanden die Interessendivergenzen der Mitgliedstaaten, als Malta aus migrationspolitischem Kalkül mit einem Veto für die Operation drohte und zunächst zwei Wochen die Bestätigung des italienischen Admirals verweigerte. Der unverhohlene Fokus auf eigene Interessen, mit dem die Mitgliedstaaten in der Causa Libyen agieren, lässt als zweite Seite des Doppeltrends weniger die Entwicklung eines neuen europäischen Selbstbewusstseins, als vielmehr das Abgleiten in völlige außenpolitische Bewusstlosigkeit befürchten.

Wer Libyen hier übrigens als Einzelfall abtut, sei kurz an den Rest der Nachbarschaft erinnert: In Syrien provoziert Ungarn zum Ärger der EU lautstark mit der Eröffnung eines Konsulats, im Ukrainekonflikt träumt Frankreich von einer europäischen Sicherheitsstruktur gemeinsam mit Russland, während Estland Pistolen an die ukrainische Regierung liefert und in der Erweiterungspolitik blockierte eine Gruppe von Mitgliedstaaten zunächst die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen im Westbalkan und löste damit eine politische Krise in Nordmazedonien aus.

Die Türkei nutzt die Schwäche der EU

Neu am Zwist der Mitgliedstaaten (und der resultierenden außenpolitischen Handlungsunfähigkeit der EU) ist die Vehemenz, mit der zusehends lachende Dritte das Bild betreten. In Libyen zeigt sich dies deutlich im Verhalten der Türkei. Ankara nutzte das ausbleibende Engagement der EU, um mit der Einheitsregierung in Tripolis im Gegenzug für militärische Unterstützung einen Seekorridor auszuhandeln, der griechisches Hoheitsgebiet auf dem Mittelmeer verletzt. Nach Unterzeichnung des Memorandums intensivierten türkische Schiffe prompt völkerrechtswidrige Gasbohrungen rund um Zypern. Zeitgleich offenbarte sich das mangelhafte Mandat der Operation Irini, als türkische Kriegsschiffe die Durchsuchung eines verdächtigten Frachtschiffes durch eine Irini-Fregatte verhinderten. Daraufhin erfolgte zwar wiederholter Protest aus Brüssel, zuletzt beim Ratstreffen der EU-Außenminister letzte Woche. Eine Einigung auf konkrete Gegenmaßnahmen für den Fall weiterer Provokationen oder eine Erweiterung des Irini-Mandates erfolgte jedoch nicht.

Der Eindruck von Hilflosigkeit der europäischen Außenpolitik verdeutlicht brennglasartig den toxischen Doppeltrend aus steigendendem Anspruch einerseits sowie institutionellen Strukturschwierigkeiten und anhaltender Uneinigkeit zwischen den Mitgliedstaaten andererseits. Doch während für die Koordinierungsschwierigkeiten zwischen den Institutionen mit Besserung zu rechnen ist, dürfte das Auseinanderdriften mitgliedstaatlicher Interessen weiterhin die größte Hürde auf dem Weg zu Weltpolitikfähigkeit (Juncker) der EU bleiben.

China kennt keine Zurückhaltung mehr

Dies ist umso bedauerlicher, als dass die Corona-Krise und der Rückzug der USA aus multilateralen Strukturen durchaus Chancen für eine Neupositionierung der EU auf globaler Bühne eröffnen. Allerdings schließt sich dieses Fenster zusehends: China hat im Umgang mit der Krise wiederholt seine Bereitschaft verdeutlicht, den Rückzug der USA mit eigenem globalem Führungsanspruch auszufüllen. Mit breit angelegten Desinformationskampagnen, finanziellem Engagement in der unmittelbaren Nachbarschaft der EU (u. a. Serbien) und aggressiven Reaktionen auf Kritik am Vorgehen in Hongkong hat Peking dabei unterstrichen, welche Instrumente es bereit ist einzusetzen. Sollte die EU nicht zeitnah einen Weg finden, die internen Dissonanzen harmonischer klingen zu lassen, könnte ein europäisches Fortissimo auf der Weltbühne in ungreifbare Ferne rücken.

Dieser Artikel erschien zuerst im IPG-Journal.

Autor*in
Moritz Wiesenthal

arbeitet und promoviert am Lehrstuhl für Internationale und Europäische Politik der Europa Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Zuvor war er unter anderem im Deutschen Bundestag tätig. Er hat in Magdeburg, Berlin und Nishni Nowgorod European Studies und Internationale Beziehungen studiert.

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