Wie Merkels Türkei-Besuch ihr ganzes Dilemma zeigt
Angespannt ist ihr Lächeln, als Angela Merkel am Samstag ein von der EU mitfinanziertes Kinderschutzzentrum im südtürkischen Gaziantep eröffnet. Ihr Amtskollege und Gastgeber Ahmet Davutoğlu dagegen sonnt sich in der Menge, spricht ein paar hübsche Eröffnungsworte. Dann reicht er das Mikrofon an Merkel – doch sie wehrt ab. Sprechen will sie hier lieber nicht. Dafür tun es andere. „Erdoğan, Erdoğan!“ ruft und applaudiert die Menge, nachdem Merkel das rote Band durchschnitten hat – und ein Ausdruck des Entsetzens huscht für den Bruchteil einer Sekunde über ihr Gesicht.
Erdoğan macht Merkel-Besuch so heikel
Diese Szene offenbart das ganze Dilemma, dem sich Merkel mit ihrer Türkei-Reise ausgesetzt hat. Auch wenn Erdoğan an diesem Nachmittag gar nicht anwesend ist – er begleitet sie auf Schritt und Tritt. Seine Einstellung zur Meinungsfreiheit, die prekäre Menschenrechtslage in seinem Land, machen ihren Besuch so heikel.
Dabei war alles so perfekt inszeniert: Besuch eines Vorzeige-Flüchtlingslagers, herausgeputzte Kinder, vorbildliche Schuleinrichtungen. Türkischen Medien verbreiteten massenhaft diese Bilder – einige TV-Kanäle übertrugen den Besuch gar live. „Sie waren begeistert“ titelte die regierungsnahe Tageszeitung Türkiye am nächsten Morgen nebst einem Bild von Merkel, Davutoğlu, EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissions-Vize Frans Timmermans in einer Schule für Flüchtlingskinder. Keine Zeitung ließ unterwähnt, dass Tusk die Türkei anschließend als weltweites Vorbild für den Umgang mit Flüchtlingen lobte.
Merkel lobt EU-Türkei-Abkommen
„Das EU-Türkei-Abkommen macht Fortschritte“, so sollte Merkels Botschaft lauten und so resümierte auch die Bundesregierung den Besuch auf ihrer Webseite. Tatsächlich sind die Zahlen illegaler Flüchtlinge über das Mittelmeer seit Inkrafttreten des EU-Flüchtlingsdeals mit der Türkei drastisch gesunken. Tatsächlich sind die drei Milliarden EU-Hilfen an die Türkei für Bildungs- und Gesundheitsprojekte fest geplant. Und haben syrische Flüchtlinge seit Anfang des Jahres zumindest eine eingeschränkte Arbeitserlaubnis in der Türkei erhalten.
Doch Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl, Amnesty International oder Human Rights Watch kritisieren den Besuch Merkels als Beschönigung des Flüchtlingsdeals. Migranten, die von Griechenland zurück in die Türkei abgeschoben werden, würden ihres Rechtes auf Asyl beraubt – insbesondere Nicht-Syrer. Zudem habe die Türkei in letzter Zeit immer wieder Flüchtlinge zurück nach Syrien geschickt – was Ankara vehement bestreitet. Fakt aber ist, dass die türkisch-syrische Grenze dicht ist – obwohl bald neue, riesige Flüchtlingsströme aus Aleppo befürchtet werden.
Der Islamische Staat bombardiert weiter
Gleichzeitig ist das Grenzgebiet, in dem hunderttausende Flüchtlinge leben, wenig sicher. Die Terrormiliz Islamischer Staat feuert seit Wochen Raketen aus Syrien über die Grenze ins türkische Kilis, mindestens 17 Menschen starben bisher.
Ebenso seien die schwierigen Lebensumstände der über 2,5 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei beim Merkel-Besuch ausgeblendet, kritisiert die englischsprachige Tageszeitung Hürriyet Daily News: „Dieses bereinigte Bild hat nichts zu tun mit dem wahren Bild syrischer Flüchtlinge, von denen nur zehn Prozent in organisierten Camps leben“, so Kolumnistin Arena Ferintinou. Städtische Armut, Analphabetentum und Schwarzarbeit seien weit verbreitet. So viele Menschen in die Gesellschaft zu integrieren, sei eine innenpolitische Mammutaufgabe.
EU verschließt Augen vor Kurden-Konflikt
Außerdem verschließe die EU ihre Augen vor den Zuständen in den türkischen Kurdengebieten, mahnt die Bloggerin Fulya Canşen in der liberalen Internetzeitung T24 an: „Kann man die Türkei ein sicheres Land nennen, während im Südosten die Gefechte anhalten, hunderte Menschen bei Terroranschlägen ihr Leben verlieren oder Menschenrechtsverletzungen Seelen verbrennen?“ Die Zugeständnisse der EU an Präsident Recep Tayyip Erdoğan würden stark daran erinnern, wie Frankreich anlässlich eines ähnlichen Abkommens mit Libyen vor zehn Jahren Diktator Muammar Al-Gaddafi hofierte: „Ein Europa, dass plötzlich Gaddafi salonfähig machte, kann sich auch leicht für Erdoğan zurechtbiegen.“
Doch Stimmen wie diese sind in der zunehmend auf Regierungslinie getrimmten türkischen Medienlandschaft nur noch vereinzelt zu vernehmen. Lauter dagegen diejenigen, die Erdoğan Beifall klatschen, etwa als er vergangenen Dienstag verkündete: „Die Europäische Union braucht die Türkei mehr als die Türkei die Europäische Union“. Er scheint sich seiner neuen Machtrolle genau bewusst zu sein – und drohte mehrmals den Flüchtlingsdeal platzen zu lassen, wenn die EU nicht ihre Versprechen wie Visa-Erleichterungen für Türken einhalte. Das weiß auch Merkel.
Türken erfreut neue Stärke gegenüber EU
So freuen sich viele Türken, die jahrelang von der EU enttäuscht wurden, diesmal am längeren Hebel zu sitze. Und feiern wie Erdal Tanas Karagöl in der regierungstreuen Tageszeitung Yeni Şafak eine Wende in den EU-Türkei-Beziehungen: „Die EU-Länder müssen diesmal wohl ihre Gewohnheit aufgeben, das EU-Abenteuer der Türkei ständig zu blockieren. Die EU fertigte die Türkei jahrelang mit einer Behandlung ab, die sie nicht verdiente und fand Ausreden, damit es keine Beitrittsverhandlungen gab. Doch nun bietet sich uns die Chance, dass sie der Türkei ihre Rechte gewährt.“
All das wird Angela Merkel im Hinterkopf behalten müssen, wenn sie, wie bei ihrem Besuch betonte, weiter auf mehr Dialog mit Ankara setzt. Ein politischer Drahtseilakt, bei dem das Wohl der Flüchtlinge leicht in Vergessenheit geraten kann.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.