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Wie leben mit dem Terror in der Türkei?

Mindestens 37 Tote forderte der jüngste Terroranschlag in Ankara. Die Gewalt erreicht eine neue Dimension: Sie kann nun jeden treffen. Erdogan eskaliert seinen Kurs weiter. Nicht wenige träumen davon auszuwandern.
von Kristina Karasu · 16. März 2016
Trauer in Ankara: Beisetzung eines Attentatsopfers vom 13. März 2016
Trauer in Ankara: Beisetzung eines Attentatsopfers vom 13. März 2016

Am Sonntagmorgen blätterte ich beim Kaffee in einer türkischen Tageszeitung. Es gab nichts Nennenswertes darin zu lesen – und das freute mich. Denn in der Türkei gab es im letzten Jahr so viele erschütternde Nachrichten wie anderswo in einem Jahrzehnt. Es regte sich bei mir die Sehnsucht nach Normalität, wie es wohl die meisten in der Türkei verspüren.

Terror in der Türkei forderte bereits hunderte Tote

Doch die Ruhe hielt nicht lange an. Schon vor dem Abendessen die furchtbare Nachricht: Bei einem Bombenanschlag mitten im Zentrum von Ankara starben über 30 Menschen. Dies war der dritte Bombenanschlag in der Hauptstadt innerhalb von fünf Monaten. Dazu kommen die Anschläge von Istanbul, Suruç und Diyarbakır - insgesamt mit über 200 Todesopfern. Nicht mitgezählt die zahlreichen PKK-Anschläge auf Sicherheitskräfte im Südosten des Landes seit letztem Sommer. Kurz gesagt: Das Attentat von Ankara überraschte keinen mehr in der Türkei. Der Schrecken, die Trauer haben begonnen, sich in der Gesellschaft einzunisten.

„Wir sollten uns für eine Weile daran gewöhnen, mit dem Terror zu leben“, erklärte noch am Sonntagabend der regierungsnahe Kolumnist Abdülkadir Selvi live im Fernsehen. Seine Aussage entfachte in den sozialen Medien große Empörung. Zwar enthält sie im Kern eine bittere Wahrheit - doch sich an den Terror zu gewöhnen, ihn gewissermaßen als unabänderlich hinzunehmen, dazu weigern sich viele Türken.

Eine neue Dimension des Terrors

Dabei offenbart das Attentat von Ankara eine neue Dimension des Terrors. Während bei den Anschlägen der vergangenen Monate offensichtlich auf bestimmte Gruppen abgezielt wurde – politische Aktivisten, Sicherheitskräfte, ausländische Touristen – sind bei diesem Anschlag Menschen jeden Alters, jeder Schicht und politischen Einstellung ums Leben gekommen.

Die Selbstmordattentäterin ist laut Innenministerium die 24-jährige Seher Cagla Demir, seit 2013 soll sie Mitglied der PKK gewesen sein. Sie zündete die Bombe in einem Auto auf dem zentralen Kizilay-Platz in Ankara. Den Platz kennt jeder in der Türkei, hier befinden sich viele Geschäfte, Restaurants, Nachhilfeschulen und ganz in der Nähe viele Ministerien, er ist meist voller Menschen – auch an diesem Abend.

Jeder in der Türkei kann Opfer werden

Einer von ihnen war der Student Ozancan Akkuş. Er hatte bei dem Ankara-Attentat vom 10. Oktober 2015 bereits einen engen Freund verloren. Am Sonntag wurde auch er von einer Bombe in den Tod gerissen - zusammen mit jungen Studentinnen, einem 15-jährigen Schüler, dem Vater eines Profi-Fußballers, einem Polizisten, einem Losverkäufer, einem Rentner-Ehepaar. Menschen, mit denen sich jeder in der Türkei identifizieren kann. Zugleich die unmissverständliche Botschaft: Es kann nun jeden im Land treffen.

„Ich bin in Gedanken, soll ich heute mit der U-Bahn, Bus, Taxi oder zu Fuß ins Büro gehen? Wo ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass ich Opfer eines Terroropfers werde?“ postete eine Bekannte von mir am Montagmorgen auf Facebook. Viele ihrer Freunde kommentierten, sie hätten leider ähnliches gedacht. Zuletzt schrieb eine ihrer Verwandten: „Hier will jemand, dass wir Angst haben.“

Wer sind die Attentäter?

Aber vor wem? Bekannt hat sich noch niemand zu der Tat. Frühere Attentate wurden vom Islamischen Staat oder der kleinen, radikalen PKK-Splittergruppe TAK verübt. Letztere hatte bereits vor Wochen angekündigt, sich für die erbarmungslosen Sicherheitsoperationen des türkischen Militärs gegen die PKK in Städten im Südosten rächen zu wollen – und zwar mit Anschlägen in den Metropolen des Landes. Dieselbe Gruppe könnte hinter dem neuen Anschlag stecken.

Prompt bombardierte daraufhin das türkische Militär Stellungen der PKK im Nordirak und kündigte die Regierung noch härteres Vorgehen gegen den Terror an. Dabei spüren viele Türken, dass noch mehr Gewalt und Härte den Terror kaum im Keim zu ersticken vermögen, sondern eher noch mehr anheizen werden. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hingegen hält an seinem Kurs fest und unterstrich am Montag, dass auch Terror-Unterstützer Terroristen seien: „Das können Personen sein, die dem Titel nach Abgeordnete, Akademiker, Schriftsteller, Journalisten oder Chefs einer Nichtregierungsorganisation sind – das ändert nichts an der Tatsache, dass sie Terroristen sind.“

Erdogan bekämpft Kurdenpartei HDP

Mit diesen Worten zielt er vor allem auf Abgeordnete der kurdennahen HDP – er wirft ihnen Unterstützung der PKK vor und fordert die Aufhebung ihrer Immunität. Nach diesem Attentat dürften sich dafür Mehrheiten im Parlament finden.

Nennenswerte Proteste aus der Bevölkerung hat er keine mehr zu erwarten – schließlich wurde jeder, der in den letzten Monaten Kritik übte, etwa am Vorgehen der Sicherheitskräfte im Südosten, gleich zum Terroristen erklärt. Jede Art von Demonstration wurde verboten oder mit Tränengas und Wasserwerfern zerschlagen.  Und eine offene und ehrliche Debatte über Sicherheitslücken oder politische Fehler sind angesichts des massiven Drucks auf kritische Medien ohnehin nicht zu erwarten. So wurde nach dem Bombenattentat am Sonntagabend schon fast routinemäßig eine Nachrichtensperre über das Thema verhängt, ebenso wie nach den anderen Anschlägen. Diesmal gleich auch für soziale Medien wie Facebook und Twitter.

Flucht ins Private - oder ins Ausland

So bleibt vielen Türken nur die Flucht ins Private, sie konzentrieren sich auf ihre Familie oder Arbeit, nicht wenige träumen davon auszuwandern. Entweder weil sie den Widerstand enttäuscht aufgegeben haben oder sich nicht kritisch mit der Politik auseinander setzen wollen. Doch die Hoffnung, dass sich die Probleme von ganz alleine auflösen, wird sich wohl kaum bewahrheiten.

 

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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