Wie es nach dem Türkei-Referendum weitergeht
Die Türkei hat gewählt und sich für eine neue Verfassung ausgesprochen. Damit verändert sich nun die gesamte politische Landschaft vom Bosporus bis nach Ostanatolien. Insgesamt 18 neue Artikel werden der türkischen Verfassung hinzugefügt. Die meisten betreffen das Präsidentenamt, dem in Zukunft sehr viel mehr Macht als bisher zustehen wird – die ersten Paragraphen sind bereits jetzt in Kraft.
Das Ende Gewaltenteilung
Nach dem Ausgang des Referendum ist Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nicht mehr zu parteilicher Neutralität verpflichtet. Somit darf er wieder offiziell Parteichef der AKP werden und die Macht noch stärker auf seine Person konzentrieren.
Auch das Justizssystem der Türkei wird von der Reform schon sehr bald grundlegend verändert werden. Voraussichtlich innerhalb der kommenden vier Wochen wird der „Hohe Rat“ abgeschafft werden. Dieser war bisher für die Einstellung von Richtern und Staatsanwälten zuständig. Von nun an soll die Personalhoheit im Justizssystem beim Staatspräsidenten und dem Parlament liegen, was die Gewaltenteilung in der Türkei de facto beendet.
Erdoğan bekommt die absolute Kontrolle
Die meisten Artikel der Verfassungsreform sollen nach den Plänen der AKP-Regierung nach der nächsten Wahl in Kraft treten. Das könnte schon 2018 der Fall sein. Ab dann wird der Staatspräsident umfassende Kompetenzen haben – von der Kontrolle über den Staatshaushalt bis zur Ernennung sämtlicher Minister. Außerdem kann der Präsident nach Belieben jederzeit den Ausnahmezustand verhängen – bisher war dafür die Zustimmung des Ministerrates nötig.
Bei so viel Macht, die sich auf einen Mann konzentriert, kommen auf die türkische Opposition wohl noch schwierigere Zeiten zu als bisher. Die größte Oppositionspartei, die kemalistische CHP, befindet sich schon länger in keinem guten Zustand. Seit Jahren bekommt die formal sozialdemokratische Partei außerhalb ihrer Hochburgen wie der Küstenstadt Izmir keinen Fuß auf den Boden. Die pro-kurdische HDP dagegen konnte zuletzt vor allem in den Kurdengebieten und unter jungen Stadtbewohnern punkten. Daraufhin reagierte die AKP-Regierung jedoch mit größtmöglicher Härte: Seit Monaten sitzen unzählige HDP-Funktionäre in Haft, die Regierung würde sie wohl am liebsten lebenslänglich hinter Gittern sehen.
Anti-Erdoğan-Proteste und Festnahmen in den Großstädten
Für die oppositionellen Ultranationalisten der MHP – auch bekannt als „Graue Wölfe“ – könnte das Referendum ebenfalls unangenehme Auswirkungen haben. Die Parteiführung unterstützte Erdoğan zwar zuletzt beim Verfassungsreferendum – und bekommt als Gegenleistung nun wohl die Wiedereinführung der Todesstrafe. Die Basis der MHP stimmte jedoch mehrheitlich mit „Nein“. Nun gehen Gerüchte um, dass sich die Parteirebellen der rechtextremen Partei bald abspalten könnten. Klar ist: Egal um welche Oppositionspartei es geht, das Verfassungsreferendum lässt alle mehr oder weniger geschwächt zurück.
Unterdessen reißen die Proteste gegen den Ausgang des Referendums nicht ab. In mehreren großen türkischen Städten, darunter Istanbul und Ankara, demonstrierten am Mittwochabend erneut tausende Menschen. Am Morgen desselben Tages waren daraufhin laut Berichten der regierungskritischen Zeitung „Birgün“ 38 Menschen festgenommen worden. Unter ihnen befand sich demzufolge mit Mesut Geçgel der Istanbuler Provinzvorsitzende der kleinen linken Partei ÖDP. Geçgel gilt als einer der Organisatoren von regierungskritischen Demonstrationen im Istanbuler Stadtteil Beşiktaş.
Entscheidung der Wahlkommission steht aus
Auf offizieller Ebene lehnte die türkische Wahlkommission den unter anderem von den Oppositionsparteien CHP und HDP eingereichten Antrag auf Annullierung des Refendums ab. Die Entscheidung fiel am Mittwochabend mit 10:1 Stimmen. Beide Parteien sowie zahlreiche Einzelpersonen hatten ihre Forderung nach Annullierung des Referendums mit der am Abstimmungstag getroffenen Entscheidung der Wahlkommission begründet, auch ungestempelte Wahlumschläge als gültig anzuerkennen. Eine Maßnahme, die auch bei internationalen Wahlbeobachtern des Europarates für heftige Diskussionen gesorgt hatte und die Kritiker als Einfallstor für eine mögliche Wahlmanipulation bezeichneten. Durch den knappen Ausgang des Referendums musste sich die Wahlkommission im Nachgang den Vorwurf gefallen lassen, das Ergebnis zugunsten Erdoğans manipuliert zu haben.
Die Bundesregierung wiederum beließ es am Dienstag bei Mahnungen in Richtung des türkischen Staatspräsidenten. Dieser solle nun auf seine Gegner und Kritiker zugehen, um eine weitere Spaltung seines Landes zu verhindern, erklärte Bundesaußenminister Sigmar Gabriel. Gleichzeitig bot er der Erdoğan-Regierung Gespräche über die weitere Zusammenarbeit an. „Unsere Hoffnung ist, dass wir nach diesem schwierigen Wahlkampf und nach den großen Auseinandersetzungen auch neue Gesprächskanäle zur Türkei eröffnen können“, so Gabriel am Rande seiner Nahostreise, die ihn unter anderem in den Irak führte. Mit Blick auf die Kritik internationaler Wahlbeobachter am Vorgehen der türkischen Wahlbehörden erklärte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes am Mittwoch, die Regierung in Ankara sei „gut beraten, das ernst zu nehmen, intensiv zu prüfen“. Eine Diskussion darüber, ob die Türkei künftig Nato-Mitglied bleiben solle, sei derzeit nicht sinnvoll.
CDU will mit „Doppelpass“ in den Wahlkampf
Mit Blick auf die Bundestagswahl in Deutschland deutet sich derweil an, dass die CDU das Thema doppelte Staatsbürgerschaft wiederbeleben möchte. Die beiden CDU-Vizevorsitzenden Thomas Strobl und Julia Klöckner forderten, den „Doppelpass“ in das Wahlprogramm ihrer Partei aufzunehmen. Hintergrund dafür ist das Ergebnis der Abstimmung der in Deutschland lebenden Türken. 63 Prozent derer, die sich an der Abstimmung über eine Verfassungsreform beteiligt hatten, stimmten für die Pläne Erdoğans. In der Bundesrepublik sorgte dieses Ergebnis für ein Aufkeimen der Debatte über die Integration türkeistämmiger Deutscher.
Dieser Beitrag wurde am 20.4. um 9:54 Uhr aktualisiert