Wie die türkische Demokratie von den Flüchtlingsverhandlungen profitiert
Thomas Trutschel/photothek.net
In der Türkei setzt sich die Serie von Repressionen gegen Medien und Journalisten fort. Am 4. März hat die türkische Polizei das Redaktionsgebäude der oppositionellen Tageszeitung „Zaman“ in Istanbul gestürmt und ist gegen protestierende Leser mit Tränengas und Wasserwerfern vorgegangen. Am selben Tag hatte ein Gerichtsbeschluss „Zaman“, die dem sozio-religiösen Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen nahe steht, unter die Aufsicht staatlicher Treuhandverwaltung gestellt.
Die Unternehmergruppe, der auch Zaman angehört, wird der finanziellen Hilfe für eine angeblich vom Gülen gelenkte Terrorgruppe bezichtigt. Doch statt die Anschuldigung der finanziellen Unterstützung zu belegen und gegebenenfalls zu unterbinden, wurde „Zaman“ über Nacht in ein regierungstreues Presseorgan verwandelt. Dies nährt die Vermutung eines Vergeltungsschlages. Denn einst ein enger Verbündeter von Erdoğan, gilt Gülen inzwischen als sein Erzfeind und sieht sich der Beschuldigung der terroristischen Verschwörung gegen Staat und Regierung ausgesetzt.
Erdoğans Agenda der Eskalation
Unabhängig davon, ob die Vorwürfe gegen „Zaman“ zutreffen oder nicht, es pass zur Agenda der Eskalation. Tatsächlich will Staatspräsident Erdoğan erreichen, dass per Referendum oder vorgezogene Parlamentswahl die Türkei in ein Präsidialsystem mit ihm an der Spitze überführt wird. Im Moment fehlt es ihm sowohl in der Bevölkerung als auch in den eigenen Reihen an einer klaren Unterstützung. Kritik ehemaliger AKP-Spitzenpolitiker, die sich umgangen fühlen, zeigt, dass Erdoğans Führungsanspruch nicht unangefochten ist.
Der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül, dem ein parteipolitisches Comeback nachgesagt wird, hat sich mehrmals kritisch zu innen- und außenpolitischen Entwicklungen geäußert. Es gibt zudem Anzeichen für eine Meinungsverschiedenheit zwischen Staatspräsident Erdoğan und Premier Ahmet Davutoğlu. Da kann ein hartes Vorgehen gegen die Gülen-Bewegung helfen, die Reihen enger zu schließen, Unterstützung von säkular-nationalistischen Kreisen zu generieren und so Erdoğan innenpolitisch entlasten.
Neuer Höhepunkt der Einschränkung der Pressefreiheit
Gleichwohl ist das Vorgehen gegen die „Zaman“ ein neuer Höhepunkt der Einschränkung der Pressefreiheit, die nach den Sommerprotesten und der unaufgeklärten Korruptionsaffäre im Jahr 2013 zugenommen und mit außenpolitischen Rückschlägen in Ägypten und Syrien sich intensiviert hat. AKP-Regierung kontrolliert heute einen wichtigen Teil der Medien und setzt sie als machtpolitisches Vehikel ein, um Oppositionelle einzuschüchtern.
Pressefreiheit und kritischer Journalismus sind für die AKP reine Störfaktoren. Dass die sie dabei so erfolgreich ist, liegt auch an der Verstrickung von Medien und Wirtschaft in der Türkei. Es sind die Investitionstätigkeiten der Medieninhaber im Bau-, Transport- und Industriesektor, welche die Mainstream-Medien von der Kontrollfunktion abhalten, wie sie für etablierte Demokratien üblich sind.
Gespräche mit der Türkei – ja oder nein?
Wenngleich sie die Regierung und Erdoğan international aufwerten, verschärfen die Verhandlungen zwischen EU und Türkei keinesfalls das Vorgehen der türkischen Regierung gegen die Medien. Ganz im Gegensatz zu den Einsprüchen der Türkei skeptischen, deutschen Öffentlichkeit geben die Gespräche zur Flüchtlingsfrage und die Beitrittsverhandlungen zwischen EU und der Türkei sowohl Brüssel als auch Berlin einen politischen Hebel in die Hand, um Ankara in die Pflicht zu nehmen, die Menschenrechtssituation und die Meinungs- und Pressefreiheit zu verbessern. Dabei sollte nicht vergessen werden: Als in den 70er-Jahren Gespräche mit den Ländern des damaligen Ostblocks geführt wurden, waren diese auch nicht demokratisch.