Wie die Dezentralisierung der Ukraine demokratisches Leben einhaucht
Thomas Trutschel/photothek.netMarienstr. 3110117 Berlinwww.photothek.net+49-(0)30-28097440
Wer nach Mariika fährt, wird durchgeschüttelt. Der Bus holpert über die Dorfstraße, die mit groben Steinen gepflastert ist. Ein Weiher zieht vorbei, dann tauchen einfache Häuser auf. Im Vergleich zu ihnen wirkt das „Haus der Kultur“ mit dem hohen Dach und den Säulen vor dem Eingang geradezu prächtig. Darin, im dunklen Hauptsaal, wartet Nina Saranjuk. Heizkörper gibt es keine. Die Temperatur liegt nahe dem Gefrierpunkt. Die 57-Jährige trägt einen schweren Wintermantel. Ihr rötliches Haar wird von einem Kopftuch gehalten. „Sie sehen doch, wie wir hier leben“, antwortet sie auf die Frage nach der Lebensqualität im Dorf.
Das Amt gekostet
Genau 194 Menschen wohnen in Mariika. Bis nach Kiew sind es zwei Stunden mit dem Auto, dazwischen liegen Welten. Die Gemeinde ist arm. Es fehle jede Entwicklungsperspektive, sagt Saranjuk, die 23 Jahre Dorfvorsteherin war. Das soll sich ändern. Deswegen haben die Bewohner für den Zusammenschluss mit der zehn Kilometer entfernten Stadt Schaschkiw sowie drei weiteren Dörfern gestimmt.
Alle waren sich einig, dass sie ihre Kräfte bündeln wollen. In Folge lösten sich die einzelnen Dorfräte auf, dafür entstand ein gemeinsamer Rat. Die Bewohner hoffen auf eine bessere Zukunft. Auch Nina Saranjuk sieht das so, obwohl sie die Fusion das Amt gekostet hat. Sie sagt: „Wir wollen in die zivilisierte Welt.“
Langsame Umwälzung
Im Dörfchen Mariika hat bereits stattgefunden, was die ukrainische Politik und die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft derzeit umwälzt. Bislang wurde der größte Flächenstaat Europas zentralistisch von Kiew aus regiert. Außerdem war das Land in mehr als 11.000 lokale Gemeinden zersplittert – ein Erbe der Sowjetunion.
Mit dem 2014 eingeleiteten „Dezentralisierungsprozess“ ordnet sich die Ukraine neu. Seitdem können sich kleine Kommunen freiwillig zu einer größeren, sogenannten „vereinigten Territorialgemeinde“ vereinigen. Dabei geben sie zwar ihre politische Eigenständigkeit auf, im Gegenzug erhalten sie mehr Geld und Zuschüsse aus Kiew sowie weitere Kompetenzen. Die fusionierten Gemeinden bestimmen dann selbst, wofür die zusätzlichen Mittel ausgegeben werden – oftmals fließen sie in die Infrastruktur. Mit der Stärkung der lokalen Selbstverwaltung wird also auch die Selbstverantwortung beflügelt.
Einen Wahlkreis sicher
Seitdem die Reform von der ersten Regierung nach der Maidan-Revolution vor vier Jahren umgesetzt wurde, haben sich bereits zahlreiche kleine Gemeinden zusammengeschlossen. Nach Angaben des Ukraine-Experten Andreas Umland hatten sich Ende 2016 rund 15 Prozent aller Kommunen zu 367 Territorialgemeinden vereinigt. Seitdem kommen immer weitere dazu.
Ende Oktober vergangenen Jahres wurde in 201 neu fusionierten Gebieten erstmals gewählt – auch in Mariika und Umgebung. Knapp 15.000 Menschen waren aufgerufen, den Bürgermeister von Schaschkiw sowie 26 Abgeordnete zu wählen. Jeder von ihnen steht für einen Wahlkreis. 21 davon befinden sich in der Stadt, 5 in den Dörfern. In Mariika liegt einer von ihnen. In dem Lokalparlament sitzt damit ein Abgeordneter, der das Dorf vertritt.
Schwierige Entscheidung
Nicht alle Kommunen in der Umgebung konnten sich durchringen, ebenfalls zu fusionieren. „Die Dörfer haben Angst, dass sie vernachlässigt werden, sobald sie sich zusammenschließen“, sagt Rena Gorenko von der ständigen Wahlkommission in Schaschkiw. Solange die Dörfer eigenständig blieben, erhielten sie weiterhin die niedrigeren finanziellen Zuwendungen wie bisher. Ein weiterer Nachteil: Entschieden sie sich doch für einen Zusammenschluss, so Gorenko, müssten sie bis zur nächsten Regionalwahl ohne Vertreter im Rat auskommen.
Den Dezentralisierungsprozess hält der Kiewer Journalist Yeven Radzenko trotzdem für eine gute Entwicklung. In der Ukraine gebe es traditionell viele Dörfer. Allerdings seien heutzutage viele Bewohner nicht mehr in der Landwirtschaft tätig. Deswegen gebe es einen großen Bedarf beispielsweise nach Schulen oder medizinischen Einrichtungen, was aber nicht finanzierbar sei. „Viele Dörfer können allein nicht überleben“, schildert er. In der Dezentralisierung sieht er einen Ausweg. Die neuen Territorialgemeinden erhielten mehr Geld und ein eigenes Budget, womit in die Versorgung der Menschen investiert werden könne. Damit beschreibt Yeven Radzenko genau das, worauf die Hoffnungen der Einwohner des kleinen Dorfs Mariika ruhen: eine bessere Zukunft.